Europäer neigen dazu, die USA zu idealisieren: Trumps Amtsjahre sind eine Chance, Amerika realistisch zu sehen

This is America

d'Lëtzebuerger Land vom 06.11.2020

Es ist eine deprimiert dreinschauende Gruppe junger Männer, die am Mittwochmorgen um halb sieben über ihrem Kaffee im Uptown sitzt, um die Live-Übertragung der US-Wahlen in der ARD zu verfolgen. Die Bar hatte zum Breakfast eingeladen. „Der wird sich am Ende noch den Wahlsieg klauen“, unkt ein Besucher grimmig. Es sollte eine Stunde dauern, die Stimmenauszählung ist noch im Gange, als Donald Trump für die Repbulikaner vor die Kameras tritt und tut, wovor Beobachter seit Wochen warnen und was er bis zuletzt abgestritten hatte: „Wir haben die Wahl gewonnen.“ Trump spricht von „Betrug“. Bis dahin waren die Wahlen ohne größere Störungen verlaufen; die drei Luxemburger Wahlbeobachter für die OSZE, Josée Lorsché, Gusty Graas und Claude Haagen, lobten eine „gute Organisation“. Zu Trumps Schachzug, den Wahlsieg für sich zu reklamieren, sagte Lorsché: „Ich sehe nicht, welche legale Basis das Land oder die Staaten haben, eine Briefwahl nicht anzuerkennen Das hieße, dass man Millionen ihr Stimmrecht wegnimmt.“

Umfragen lagen falsch Fast alle Umfragen hatten Joe Biden und Kamala Harris einen Sieg vorausgesagt, teils mit zweistelligem Vorsprung. Sie lagen daneben. Bis Redaktionsschluss lag der demokratische Herausforderer Biden mit 264 Wahlleute-Stimmen vor Donald Trump (214 Stimmen, AP). Um Präsident zu werden, braucht ein Kandidat mindestens 270 Stimmen der Wahlleute des so genannten Electoral College, das dann den Präsidenten wählt. Wahlentscheidend werden, aller Voraussicht nach, die Stimmen der Bundesstaaten Pennsylviana und Georgia sein. Wenn sie bis zum Ende ausgezählt werden. Vieles erinnerte an die Wahlnacht 2016; da hatten die Wahlforscher ebenfalls gemeint, Hillary Clinton von den Demokraten würde das Rennen machen, sie hatte dennoch verloren. Auch diese Präsidentschaftswahl ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Durch das in den USA besonders stark grassierende Coronavirus war das Wahlverhalten dieses Jahr schwieriger als sonst einzuschätzen; viele, vor allem Demokraten, haben sich nicht aus dem Haus getraut, sind auf Briefwahl umgestiegen. Abweichungen in den Umfragen von bis zu zehn Prozent sind trotzdem enorm.

Die Ursachen des knappen Wahlausgangs werden Analysten in den nächsten Tagen und Wochen beschäftigen, darunter die Frage, wie viele Stimmen durch Wahlmanipulationen verloren gingen. Dass die Stimmen in den chlüsselstaaten Georgia, Nevada und Pennsylvania bis Redaktionsschluss nicht ausgezählt waren, lag am hohen Anteil von Briefwählern, aber vor allem an Gesetzen, wonach Briefwahlstimmen nicht vor dem Wahltag selbst ausgezählt werden dürfen. Völlig unklar blieb, wohin die 300 000 Briefwahlstimmen verschwunden sind, die ein Richter bei der Post beschlagnahmen wollte. Von jenen Stimmenverlusten ganz zu schweigen, die durch Wahlbehinderung, wie dem Zuschnitt der Wahlkreise, dem Gerrymandering, verloren gingen, ein übler Trick, die von beiden politischen Parteien, zuletzt aber vor allem von den Republikanern genutzt wurde, um insbesondere schwarze traditionell demokratische Wähler davon abzuhalten, ihre Stimme abzugeben. Es sieht so aus, als wird die Wahl vorm neunköpfigen Obersten Gerichtshof landen – dort haben die Republikaner nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg mit ihrer vor den Wahlen durchgedrückten neuen erzkonservativen Richterin Amy Coney Barrett mit sechs zu drei Stimmen die Nase vorn.

Die Wahl und der Wahlkampf zeigen, „wie tief gespalten die Vereinigten Staaten sind“, hatte Außenminister Jean Asselborn in einer ersten Reaktion dem Land gesagt. Trump tat und tut nichts, um die Polarisierung zu mindern, sondern heizte sie im Gegenteil mit seinem früh und unzulässig erklärten vermeintlichen Wahlsieg an: Das Justizministerium schickte bewaffnete Polizeibeamte in Wahllokale, angeblich um die Stimmenauszählung zu überwachen, obwohl ein Gesetz dies verbietet. Journalist/innen in Washington, New York und Portland berichteten von einer nervösen Stimmung, die jederzeit umschlagen könne. Das ist ein Pulverfass, das in den nächsten Tagen in die Luft zu gehen droht.

Systematische Wahlbehinderung Den Eindruck extrem verhärteter Fronten und zum Teil diametral anderer Realitäten konnten Teilnehmende eines Webinars der amerikanischen Handelskammer Amcham am Montag mit US-Botschafter Randy Evans beobachten, wo Demokraten und Republikaner ein letztes Mal vorm Wahltag diskutierten. Vor allem der republikanische Vertreter haute eine Behauptung nach der anderen heraus, etwa dass der Bericht des Sonderermittlers Robert Mueller keine verschwörerische Zusammenarbeit bei den letzten Wahlen zwischen dem Team Trump und Akteuren in Russland ergeben habe; dabei war der Bericht zu gemischten Ergebnissen gekommen. Beide Seiten redeten aneinander vorbei, ihre Argumente wirkten wie auswendig gelernt.

Den Graben in der US-Gesellschaft hat Trump aber nicht geschaufelt, er wird von ihm aber aktiv vertieft siehe seine abfälligen Äußerungen zu den Black Lives Matter-Protesten infolge des Tods des Afro-Amerikaners George Floyd oder zu den Aufmärschen weißer Neonazis in Charlottesville. Ob Abtreibungen, Gesundheitsversorgung oder Klimakrise, alles scheint inzwischen zur Glaubensfrage geworden. Wortwörtlich angesichts erzkonservativer Evangelikale, die historisch eine wichtige Wählergruppe der Republikaner sind und über Trumps Verfehlungen großzügig hinwegschauen, solange er die Gerichte mit konservativen Abtreibungsgegnern besetzt. Durch viele Familien geht ein tiefer Riss, berichten US-Amerikaner, die hier in Luxemburg leben.

Die weitere Polarisierung geht nicht nur von Donald Trump und seinen rabiaten Anhängern aus: Unvergessen der verhängnisvolle Satz von Hillary Clinton über „erbärmliche“ Trump-Anhänger bei den vergangenen Wahlen 2016. Biden und Harris betonten in ihrer Wahlkampagne „Anstand und Würde“, die sie wiederherstellen wollten. Als Kandidat der bürgerlichen Mitte war Joe Biden angetreten, die Mehrheit der Amerikaner in einer Art Bündnis der Anständigen gegen Trump und seine Helfershelfer zu vereinen. Das ist ihm nicht gelungen, obschon sich Republikaner teils sehr medienwirksam sich auf die Seite Bidens geschlagen haben.

Virus oder Wirtschaft Selbst ein tödliches Coronavirus, das bisher mehr als 230 000 Amerikanern das Leben kostete, die Mehrheit davon schwarz oder indigenen Ursprungs, hat die fundamentalen Meinungsdivergenzen zwischen Republikanern und Demokraten etwa über die Gesundheitsversorgung nicht behoben; das Biden-Team hatte im Schlussspurt versucht, mit Gratis-Covid-Tests und kostenlosen Covid-Behandlungen unschlüssige Wähler/innen für sich zu gewinnen. Das ist das Problem: Die einen fürchten das Virus, für die anderen existiert es gar nicht oder nur als aufgebauschte Grippe. In Nachwahlbefragungen war Trump-Wählern die Wirtschaft das wichtigste Thema. Vor Corona lief die Wirtschaft einigermaßen rund, auch wenn wegen Trumps üppiger Steuergeschenke vor allem für Unternehmen und für Reiche von insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar die Staatsverschuldung massiv anstieg und inzwischen bei 26,5 Billionen Dollar liegen soll.

Männer wählen Trump Ob Trump mit seiner America-first-Wirtschafts- und Handelspolitik erfolgreich ist, ist für seine Wähler nicht so wichtig. Für sie ist Trump die Erweckungsfigur, mit der sie hoffen, den eigenen Bedeutungsverlust wettzumachen und an alte (Vor-Obama-)Zeiten anzuknüpfen, als die USA noch Weltmacht waren und der Amerikanische Traum greifbar. Trump hat in Rust Belt-Saaten gepunktet, in Indiana, er hat Ohio hinzugewonnen, in Michigan liegt Biden vorne. Gleichwohl konnte Biden, dessen Vater Autohändler war, nicht so recht überzeugen. Die blaue Welle jedenfalls blieb aus. Soziolog/innen erklären dies mit einer tiefen Frustration vor allem weißer US-Amerikaner, die sich von Washington nicht mehr vertreten fühlen und sich seit längerem auf der Verliererstraße wähnen.

Den Mythos vom starken Mann suchen sie in Trump und finden ihn auch. Der letzte, aus ähnlichem Holz geschnitzte Republikaner war Ronald Reagan. Die protektionistische Handelspolitik, der unversöhnliche Konfrontationskurs gegen China, das unilaterale Vorpreschen, kommt bei Trump-Wählern an, obschon Farmer im Wheat Belt über chinesische Vergeltungsaktionen die Zeche für den Handelskrieg zahlen. Der ruppige Stil gefällt nicht nur Weißen: In Florida und Texas wählten viele Latinos aus Kuba und Venezuela Trump, weil sie sich von ihm einen anti-kommunistischen Kurs erhoffen und die Aufrechterhaltung der Wirtschaftssanktionen gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer. Biden war von Latino-Bürgervereinen vorgeworfen worden, diese Wählerschaft nicht genug zu umwerben, beziehungsweise sie mit seiner Kampagne nicht zu erreichen.

Brutalität und Rassismus sind tief in die US-amerikanische Geschichte eingelassen und setzen sich heute unter anderem in einem rassistischen Polizei- und Justizapparat fort. Der Siedlermythos ist Wurzel und Antrieb des für Europäer befremdlich anmutenden Waffenkults und eines Männerbilds vom Einzelkämpfer. Deshalb kommt Trump vor allem bei weißen Männer gut an, demokratische Kandidaten dagegen eher bei Frauen. Und da insbesondere bei afro-amerikanischen. Schwarze Wahlberechtigte wählen bis zu 80 Prozent demokratisch; allerdings geben längst nicht alle ihre Stimme ab; nicht zuletzt wegen der vielen Hürden, die gerade ihnen in den Weg gestellt werden.
Afro-Amerikaner

haben wohl in den vergangenen Jahren sozial aufholen können, aber sie sind von Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung überproportional betroffen. Sie sind gesundheitlich unterversorgt, auf dem Wohnungsmarkt werden sie diskriminiert. Das Biden-Team hatte gezielt versucht, sie anzusprechen: 30 Millionen sind wahlberechtigt, sie machen fast 13 Prozent der Wähler/innen aus. Aber Kamala Harris und Joe Biden sind unter afro-amerikanischen Wahlberechtigten ambivalente Figuren: Biden wegen seiner Zustimmung zum Crime Bill von 1994, der den Weg zu Massenverhaftungen und Inhaftierungen vor allem von Schwarzen bereitete (Biden entschuldigte sich später dafür). Die ehemalige kalifornische Staatsanwältin Harris stand damals für eine strenge Law-and-Order-Justiz.

Black Lives Matter Der schwarze Autor Jamelle Bouie schrieb zwei Tage vor den Wahlen in einer Kolumne für die New York Times: „Don’t fool yourself. Trump is not an abberation.“ Viele Europäer halten Trump für eine groteske Übertreibung oder Anomalie. Trump sei beleidigend und „transgressiv“. Diese Grenzüberschreitungen insbesondere gegenüber Schwarzen und gesellschaftlich Benachteiligten seien aber keineswegs neu: „Was schrecklich ist an Trump, ist auch an den USA schrecklich.“ Der krankhafte Narzissmus, die Individualisierung, menschliche und soziale Kälte sowie Ignoranz und Verachtung gegenüber den Verlierern der Gesellschaft, sind nicht der Person Trump zuzuschreiben, sondern spiegeln sich in der US-Gesellschaft wider.

Engagierte Jugend Daran ändert nichts, dass eine junge engagierte Generation eine Neuausrichtung fordert. Viele der rund 15 Millionen Erstwähler/innen hatten die linkeren Kandidaten der Demokraten, Bernie Sanders und Elizabeth Warren, unterstützt, auch weil sie sich ausdrücklich für ihre Anliegen stark machten: gebührenfreie Unis, den Erlass von Studienschulden, Umweltschutz, gegen Polizeigewalt und für Waffengesetze; wie viele junge Wähler für Biden gestimmt haben, ist noch unklar. Biden bekennt sich zum Pariser Klimaabkommen und will die USA bis 2050 zur C02-Klimaneutralität führen sowie neue, grüne Jobs schaffen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass am Wahltag die USA endgültig aus dem internationalen Klimaschutz-Abkommen ausgestiegen sind. Die ökologische Abrisspolitik Trumps ist Bundesstaaten und Unternehmen nicht geheuer; meint zumindest Jean-Jacques Rommes, ehemaliger Präsident der Bankenvereinigung ABBL und Vorsitzender des Wirtschafts- und Sozialrats, in einem Interview mit Radio 100,7: US-Firmen hätten die Deregulierungen von rund 80 Umweltgesetzen nicht gefragt. Trumps handelspolitische Bilanz sei ein „Massaker“, so Rommes. Die Importsteuern seien für Unternehmer eine „Katastrophe“ und würden hauptsächlich vom Endverbraucher bezahlt. Um an die Pariser Klimaziele anzuknüpfen, bräuchten die Demokraten eine Mehrheit im Repräsentantenhaus und am besten die im Senat. Die im Repräsentantenhaus haben sie, der Vorsprung im Senat dürfte, wenn dann knapp ausfallen. Zu knapp, um das Oberste Gericht zu erweitern und neue Sitze an liberale Richter/innen zu vergeben.

„Biden wird gewinnen; dann lassen sie Trump fallen wie eine heiße Kartoffel“, betont der Wirt der Kneipe am Fuße des Heilig-Geist-Plateaus unbeirrt optimistisch. Und sagt damit fast dasselbe wie Außenminister Jean Asselborn: „Die USA haben die älteste bestehende Demokratie der Welt. Ich bin überzeugt, das wird auch so bleiben.“.

Ines Kurschat
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