2019 hatten die Grünen mit Tilly Metz bei den Europawahlen ein Rekordergebnis eingefahren. Jetzt soll sie den seitdem angerichteten Schaden begrenzen. Ein Porträt

„D'Tilly kriss de net agespaart“

Am Samstag auf dem Europakongress  in Moutfort
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 22.03.2024

Während ihr Vorgänger Claude Turmes (63) 18 Jahre lang im Europaparlament die technologische Umsetzung der Energiewende mitgestaltete, hat Tilly Metz (56) in den vergangenen sechs Jahren in Straßburg und Brüssel für Tierwohl gekämpft, mit Pharmalobbyisten über mehr Transparenz und einen besseren Zugang zu Medikamenten gestritten und sich für den Ausbau des Schienennetzes eingesetzt. 2019 hatte sie auf sich aufmerksam gemacht, als sie mit Friedensaktivist/innen auf dem belgischen Militärstützpunkt Kleine-Brogel die Startbahn für F16-Flugzeuge blockierte. Anders als viele ihrer Parteikolleg/innen, ist die studierte Psychopädagogin keine Technokratin. „Demgegenüber bin ich der Meinung, dass die Herausforderung der Klimakrise und der Abschied von fossilen Energien heute in erster Linie eine soziale Frage ist und keine technologische“, schreibt sie im Vorwort ihres kürzlich erschienenen Buchs. Handelte Transition énergétique – Une chance pour l’Europe, das „Eurofighter“ Turmes 2017 veröffentlichte, von dessen Verdiensten im Europaparlament, sind in Tilly Metz’ Anthologie La transition sera sociale ou ne sera pas vor allem Beiträge engagierter Bürger/innen aus der alliierten Zivilgesellschaft zu finden.

Das Buch soll Antworten liefern auf die Herausforderungen, denen die Ökobewegung sich seit dem Abebben der „grünen Welle“ stellen muss, die ihren Höhepunkt vor fünf oder sechs Jahren erreicht hatte: Bei den Gemeindewahlen 2017, als Roberto Traversini Bürgermeister in Differdingen wurde; bei den Kammerwahlen 2018, als die Grünen drei Sitze hinzugewannen und hofften, mit Claude Wiselers CSV koalieren zu können, um schließlich die Dreierkoalition mit DP und LSAP zu retten; 2019, als sie bei den Europawahlen mit Tilly Metz und Meris Sehovic ein Rekordergebnis erzielten und den zweiten Sitz im EU-Parlament knapp verpassten, während auf den Straßen Schüler/innen und Studierende nach dem Vorbild von Greta Thunberg für radikalere Klimamaßnahmen demonstrierten.

Dann kam Corona, die Energiepreise stiegen, Russlands Krieg in der Ukraine trieb die Inflation an, und nationalistische bis rechtsextreme politische Kräfte gewannen an Zustimmung. Sie machten die Grünen als Hauptgegner aus, diskreditierten sie als Verbotspartei, warfen ihnen vor, die Menschen mit strengen Umweltauflagen, Feminismus, Fleischverzicht und Gendervielfalt in ihren bürgerlichen „Freiheiten“ einzuschränken. In Luxemburg demontierten die Grünen sich mit Skandalen wie die um Roberto Traversini und Carole Dieschbourg teilweise selbst. Diese Affären und der „Kulturkampf“ mit den Rechten mündeten 2023 in zwei Wahldesastern. Für die Europawahlen am 9. Juni bangen die Grünen um ihren einzigen Sitz, den Jup Weber 1994 errang und den Claude Turmes und Tilly Metz seitdem verteidigten.

Zusammen mit Fabricio Costa (29), bis vor vier Wochen noch Ko-Präsident der Jonk Gréng, führt Tilly Metz erneut die Liste der Grünen an. Mit François Bausch hat sie einen prominenten Mitstreiter, dessen politische Karriere fast schon als beendet galt, als er ein Jahr vor den Kammerwahlen verkündete, er stehe nicht mehr für ein Regierungsmandat zur Verfügung. Seine Kandidatur zu den Europawahlen war in der Partei umstritten, da der 67-jährige Ex-Minister im Oktober ein Drittel seiner Stimmen einbüßte und die Partei im Zentrumsbezirk zwei Sitze verlor. Schließlich gab seine nationale Bekanntheit den Ausschlag. Vervollständigt wird die Liste durch die beiden ehemaligen Abgeordneten Chantal Gary (36) und Djuna Bernard (31) sowie Patrick Hurst (43), früherer Präsident des Centre pour l’égalité de traitement.

Obwohl François Bausch beteuert, er werde sein Mandat annehmen, sollte er gewählt werden, hoffen die Grünen doch, dass Tilly Metz im Europaparlament bleibt. Vielleicht verkörpert heute keine/r in der Partei die Werte und die Dialektik der Grünen glaubwürdiger als die queere Pädagogin und überzeugte Vegetarierin, die stets versucht, ihrer (spieß-)bürgerlichen Herkunft zu entfliehen, um doch immer wieder von ihr eingeholt zu werden. „D’Tilly kriss de net agespaart“, erzählt ihre Ehefrau, die Unternehmerin und selbsterklärte Autofanatikerin Barbara Agostino, die vergangenes Jahr für die DP in den Petinger Gemeinderat und in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. „A wann s de versichs et anzefänken, ass et fort.“

Anders als ihr Nachname es vermuten lässt, ist Tilly keine direkte Nachfahrin der großbourgeoisen Industriellen- und Politikerfamilie Metz. Verbindungen zwischen beiden Strängen habe es wohl im 17. Jahrhundert im rheinland-pfälzischen Sengerich gegeben, hat sie herausgefunden, sie selbst stammt aus eher kleinbourgeoisen Verhältnissen: Ihr Urgroßvater Henri war Handelsreisender, ihr Großvater Léon Leiter der Escher Banque-Générale-Filiale.

Tilly Metz wuchs in einer konservativen Familie in der Hauptstadt auf. Ihr Vater Henri war Neurologe und Generaldirektor des CHL, für die CSV kandidierte er 1984 zu den Kammerwahlen und war Mitglied des Staatsrats. Ihre Mutter Rita entstammt der Wein- und Spirituosenhändler-Familie Pitz-Schweitzer aus Hosingen, die seit fast 100 Jahren die Exklusivrechte an der Herstellung und Vermarktung des Echternacher Kräuterlikörs Maagbitter Buff hält. Zuhause sei viel über Politik geredet worden, als Tilly sechs war, malte ihre vier Jahre ältere Schwester Léa ihr ein Bild in ihr Poesiealbum, auf dem ein Männlein vor Wahlplakaten mit der Aufschrift „Votez Giscard“ steht. Léa war bis zu ihrer Pensionierung Französischlehrerin, Tillys zwei Jahr älterer Bruder René ist, wie sein Vater, Neurologe und seit 2021 Generaldirektor des Escher Chem.

Als Jugendliche sei sie „wierklech keen einfacht gewiescht“, erzählt Tilly Metz dem Land. Manchmal verschwand sie tagelang, etwa um nach Südfrankreich zu trampen. Die Schule schmiss sie vor der Première hin, um eine Sendung im Piratensender RFM zu moderieren und als Kellnerin im Le Rabelais auf der Place d’Armes zu jobben. Nachdem ihr eines Abends das Serviertablett aus der Hand gefallen und Gläser zu Bruch gegangen seien, habe sie beschlossen, ihr Abitur nachzuholen und zu studieren. Erst Psychomotorik, dann Psychopädagogik in Louvain-la Neuve.

Wegen der Liebe wollte sie in Belgien bleiben, schließlich kehrte sie doch nach Luxemburg zurück. Marcel Reimen, Generaladministrator im Gesundheitsministerium unter Johny Lahure (LSAP), stellte sie ein und nahm sie mit zu Treffen des sozialistischen Cercle Michel Welter, wo über Themen wie Bildung und Sonderpädagogik diskutiert wurde. Aus einer kurzen Liaison mit dem Metzger Frank Steffen ging ihre Tochter Lisa hervor, die heute COO der zum Feinkost-Imperium gewachsenen Steffen Group ist.

Nachdem sie Texte von Robert Garcia gelesen hatte, wechselte Tilly Metz 2001 zu den Grünen. Drei Jahre später machte François Bausch sie zur Parteisprecherin, erst im Tandem mit Robert Rings, danach mit Carlo De Toffoli. Sie begann als Lehrerin am IEES in Fentingen, das 2006 als LTPES nach Mersch umzog. Sie verliebte sich in den Schuldirektor Henry Welschbillig, sie heirateten, 2002 folgte sie ihm nach Syren in die Majorzgemeinde Weiler-la-Tour, wo sie sich 2005 zur Bürgermeisterin wählen ließ. In dieser Zeit habe sie viel über Politik gelernt, sagt Tilly Metz. Obwohl die Bevölkerung von Weiler-la-Tour zu den wohlhabendsten in Luxemburg zählt, habe der Gemeindeverwaltung das Geld gefehlt, um wichtige Projekte umzusetzen: „Ech hat vill Iddien, awer keng Suen.“

Vor 18 Jahren war es erneut die Liebe, die ihr Leben veränderte. Bei einem Freundschaftsspiel der Yellow Boys Weiler-la-Tour gegen die Frauennationalmannschaft verfiel sie der 15 Jahre jüngeren Fußballerin Barbara Agostino, einer ehemaligen Schülerin von ihr, und zog zu ihr in die Hauptstadt. Ihre Familie war schockiert, in Weiler-la-Tour konnte sie nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren. 2011 erlaubte ihr der damalige CSV-Innenminister Jean-Marie Halsdorf, die Cellule indépendante Fusions Communales zu gründen, die 2012 einen Leitfaden veröffentlichte.

Nach dem Regierungswechsel ging sie zurück ans LTPES, wo sie unter ihrem früheren Mann stellvertretende Direktorin wurde. Ihre politische Karriere war ins Stocken geraten. Zu den Kammerwahlen war sie erstmals 2004 angetreten, landete aber nur im Mittelfeld. 2009 und 2013 wurde sie jeweils Fünfte auf der Zentrumsliste. Bei den Europawahlen 2014 wurde sie hinter Claude Turmes Zweite, 2017 zog sie als Viertgewählte in den Gemeinderat der Stadt Luxemburg ein. Der Tod von Camille Gira führte sie sieben Monate später nach Straßburg.

Das Rekordresultat von 2019 wiederholen zu können, daran glaubt bei den Grünen derzeit keiner. Wie die LSAP möchten sie vor allem verhindern, dass die rechtskonservative ADR ihnen den Sitz klaut. 2019 hatten die Grünen von den hohen Verlusten der CSV (minus 16,55%) profitiert, die ohne Viviane Reding, Georges Bach und Frank Engel angetreten war. Meris Sehovic hatte die Europawahlen zu Klimawahlen dekretiert. Diesmal stehen andere Themen im Vordergrund: Die Verteidigung der EU vor einem mutmaßlichen Angriff Russlands, die Energiesicherheit, die Begrenzung von Migration, ein „pragmatischer“ Umwelt- und Klimaschutz für Bauern und die Industrie. Die Rechten haben den Diskurs vereinnahmt.

Was haben die Grünen dem entgegenzusetzen? Inhaltlich wollen sie das Soziale wieder stärker in den Fokus rücken. Strategisch, offensiver vorgehen. Ihre Partei habe es in den vergangenen Jahren verpasst, die Menschen auf einer emotionalen Ebene mitzunehmen, analysiert Tilly Metz. Man habe zu sehr auf Fakten und die Verteidigung der eigenen Bilanz gesetzt, sei zu technokratisch gewesen. Obwohl sie vornehmlich mit Bus und Bahn fahre, müsse sie respektieren, dass Menschen, die nicht in urbanen Ballungsgebieten wohnen, auf ein Auto angewiesen sind. „Wann s de ze vill distant eriwwer kënns, kanns de nach souvill Fakten hunn“, sagt sie. Gleichzeitig habe man die verbalen Angriffe der Rechten ignoriert, weil man sich überlegen wähnte. Dadurch habe man arrogant und überheblich gewirkt, findet auch der neue Ko-Sprecher der Jonk Gréng, Kris Hansen. Tilly Metz gebraucht den Begriff „klugscheißerisch“. Die Stammwählerschaft der Grünen liege bei zehn bis zwölf Prozent, schätzt François Bausch. Für einen Restsitz könnte es am 9. Juni vielleicht reichen.

Luc Laboulle
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