ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Klientelismus

d'Lëtzebuerger Land du 22.03.2024

Während Monaten begehrten Zehntausende Bäuerinnen und Bauern in den Nachbarländern auf. Die hiesigen Bauern erteilten den ausländischen Kollegen Prokura: Die Fernsehbilder von Treckern am Brandenburger Tor, Jauchefässern vor den Préfectures, Straßenblockaden in Brüssel genügten. Die Regierung bekam es mit der Angst zu tun. Sie lud umgehend zu einem Landwirtschaftsdësch ein: Dank Fongenindustrie und Tanktourismus muss sie keine Zuschüsse kürzen.

Den tonangebenden Bauern geht es nicht schlecht. Die Landwirtschaft ist zu drei Vierteln eine Kuhwirtschaft: Die Agrarproduktion besteht zu einem Drittel aus Milch, zu 16 Prozent aus Rindern, zu 22 Prozent aus Futterpflanzen für diese Rinder (Ministère de l’Agriculture, Die luxemburgische Landwirtschaft in Zahlen 2020, S. 21).

Anders als Getreide- und Fleischproduktion garantiert die Milchproduktion einen täglichen Ertrag auf dem investierten Kapital. Seit 1980 hat sich der Ertrag pro Kuh verdoppelt. Durch intensive Stallhaltung hat sich die Zahl der Kühe pro Betrieb verdoppelt. Dank der „enorm gestiegenen Milchpreise“ verdoppelte sich 2022 das Betriebsergebnis der Milchproduzenten (Ministère de l’Agriculture, Landwirtschaft in Luxemburg. Betriebsergebnisse 2021/22, S. 21).

Seit einem Jahr sinkt der Milchpreis wieder. Es gibt Ackerbauern, Viehzüchter, Winzerinnen, Nebenerwerbsbetriebe, die Verluste erwirtschaften. Die hoch verschuldet sind bei gestiegenen Zinsen. Die Land verkaufen müssen. Über die Verlierer geht selten die Rede. Nur wenn die Gewinner Mitleid für sich selbst erheischen. In der Landwirtschaftskammer sind nun drei Verbände fast gleichstark: Von paternalistisch bis liberal. Je nach Einkommenslage.

Die begrenzte Agrarfläche, das Genossenschaftswesen, die politische Förderung der Familienbetriebe bremsten die Konzentration: Unter den größten heimischen Firmen taucht kein Agrobusiness auf. 95 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe sind Familienbetriebe.

Die Bauernverbände empfinden sich als Wahlsieger: Die CSV ist zurück, die Grünen sind geschlagen. Was wollen sie mehr? Seit zwei Jahrhunderten gibt es eine Trennlinie in der Politik: Das liberale Bürgertum, die linke Arbeiterbewegung stehen für die Industrie, die Stadt, den Fortschritt, den Freigeist. Die klerikale Rechte steht für den Grundbesitz, das Dorf, die Tradition, die Religion.

Wie Arbeiter leisten Bauern harte körperliche Arbeit. Anders als Arbeiter sind sie im Besitz ihrer Produktionsmittel: Äcker, Kühe, Trecker. Das führt zu Konkurrenz mit dem Nachbarhof, erschwert die Solidarität. Sie sind eine Klasse von kleinen Eigentümern. Das macht sie konservativ. Sie wählen CSV. Härebaueren und Winzer auch DP.

Seit einem Jahrhundert ist das Agrarministerium fast ununterbrochen in der Hand der CSV. Landwirtschaftspolitik war stets CSV-Klientelismus, nun bürokratisiert und digitalisiert. Gespeist aus den Zuschüssen und dem Protektionismus „vu Bréissel“. Von der Bauernzentrale umgemünzt in Wählerstimmen. Zuschüsse entsprechen einem Drittel des Umsatzes (Betriebsergebnisse 2021/22, S. 28).

Die Landwirtschaft macht 0,3 Prozent der nationalen Wertschöpfung aus. Sie beschäftigt 3 531 Familienmitglieder und 1 066 Landarbeiter. So viel wie CFL oder Amazon. Ein Viertel der Beschäftigten ist lohnabhängig. Von ihnen geht nie die Rede. Das Arbeitsrecht gilt für sie bedingt. Sie sitzen nicht am Landwirtschaftsdësch.

Bauern sind klassenbewusst. Sie finden ihre Arbeit nicht respektiert. Sie stärken ihr Selbstwertgefühl mit schweren Treckern. In der Dienstleistungsgesellschaft gilt der Primärsektor als „industrie crépusculaire“. Mittelschichtkinder aus der Stadt nennen Piff „Gülle“. Sie erklären den Leuten vom Dorf, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen.

Produktivitätssteigerungen werden als ökonomische Allheilmittel gepriesen. Auf Kosten der Beschäftigten und der Umwelt. Nur die Bauern sollen ihr Kapital schlechter verwerten. Sie sollen als Landschaftsgärtner die Steueroase begrünen.

Romain Hilgert
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