Türkei

Das gefährliche Wahlchaos

d'Lëtzebuerger Land du 17.05.2019

Der türkische Wirtschaftsjournalist Emin Capa schlägt Alarm: Er habe nachgeschaut, ob er noch auf der Liste der Wahlberechtigten stehe. Seinen Namen konnte er aber nicht mehr finden. Nun befürchten Millionen anderer Wählenden, dass auch ihre Namen gelöscht werden könnten. Denn seitdem die türkische Wahlkommission die Bürgermeisterwahl in Istanbul Anfang Mai annulierte, geht in der Stadt am Bosphorus das Gerücht um, die Regierung lösche Oppositionswähler aus den Wählerlisten.

Auch die Annulierung der Wahl ist fragwürdig. Die Bürgermeisterwahl vom 31. März wurde für ungültig erklärt, obwohl die Wählenden ihre Stimmzettel für die Stadtparlamentswahl gemeinsam mit Stimmzetteln zu Kreiswahlen und deren Parlamenten

in den selben Umschlägen abgaben. Diese anderen Wahlen seien korrekt, heißt es. Klar, denn diese gewann die Partei des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP).

Die Behauptung der AKP, die Wahl sei manipuliert worden, ist auch aus einem anderen Grund unglaubwürdig. Denn die AKP begründet ihre Beschwerde vor allem damit, dass die Zusammensetzung von tausenden Wahlkommissionen direkt an den Urnen manipuliert gewesen sei. Doch die Mitglieder dieser Kommissionen wurden vom Innenministerium selbst ausgewählt, dabei ist das Ministerium selbst fest in der Hand der AKP.

Viele Beobachter nehmen nun an, der Kandidat der oppostionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, werde die Neuwahl, die für den 23. Juni angesetzt ist, mit noch größerem Abstand gewinnen. Doch die AKP glaubt, Erdogans Partei könne Istanbul zurückgewinnen. Offenbar glaubt aber auch die CHP nicht an einen einfachen Sieg in Istanbul. Das verrät ihre Vorbereitung für die Neuwahl. Die Partei, die sich selbst sozialdemokratisch nennt, aber eher nationalistisch als links ist, tut sich vor allem schwer mit den Millionen von Kurden, die mittlerweile in Istanbul leben. Am 31. März folgten viele Istanbuler Kurden der Wahlempfehlung der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die traditionell das Vertrauen der Kurden genießt, und wählten die CHP. Weder vor noch nach der Wahl fiel es den Nationalisten der CHP ein, sich bei diesen Wählern zu bedanken. Obwohl die HDP-Führung ihre Unterstützung des CHP-Kandidaten aufrechthält, versucht die AKP hier zu spalten und die mehrheitlich konservativ muslimischen Kurden für sich zu gewinnen.

Auch anderswo droht der Oppositionsblock auseinanderzubrechen. Die CHP bemüht sich beispielsweise ihre Anhänger von der so genannten „Boykott-Front“ fernzuhalten. Diese mehrheitlich linkssozialistischen kleinen Gruppen propagieren seit der Wahl, dass die „bürgerliche Demokratie“ die Wünsche der Bevölkerung nicht wirklich beachte und die AKP ohnehin die Neuwahl zu ihren Gunsten manipulieren werde.

Ein Argument, das nicht so einfach von der Hand zu weisen ist. Fakten, die der armenischstämmige HDP-Abgeordnete Garo Paylan diese Woche im Nationalparlament offenlegte, schüren die Angst vor einer Wahlmanipulation der AKP. Laut Paylan, habe die AKP vom Innenministerium und anderen staatlichen Behörden die privaten Daten aller Wahlhelfer und deren rund 9 000 Familienangehörigen erhalten. Damit verfügt Erdogans Partei über ein wirkungsvolles Druckmittel gegen die Wahlhelfer.

Die CHP versucht unterdessen, weitere Gruppen in den Oppositionsblock zu holen. Erfolgreich umwarben sie die linksnationalistische Partei der Demokratischen Linken (DSP). Die DSP hatte am 31. März einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt und holte 30 000 Stimmen. Nun verzichtet die DSP auf eine Kandidatur. Es gilt als sicher, dass ihre Wähler den CHP-Kandidaten wählten.

Selbst eine fundamentalistisch-islamistische Partei versucht die Chancen der CHP zu erhöhen. Die Wohlfahrtspartei (SP), von der sich Erdogan und andere 2002 trennten, um die AKP zu gründen, überlegte tagelang, ob es geschickter sei, ihre Wähler direkt zur Unterstützung der CHP aufzurufen oder einen eigenen Kandidaten zu nennen. Sie entschied sich für die zweite Strategie. Zu groß war das Risiko, dass SP-Wähler zur AKP überlaufen, da sie die CHP und die laizistischen Eliten hassen, welche über Jahrzehnte die Frommen mit aller Macht der Staatsgewalt quälten.

Die größte Sorge der Opposition ist allerdings das „7. Juni-Syndrom“. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 hatte die AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Daraufhin erzwang Erdogan eine Wahlwiederholung und zettelte anschließend eine Gewaltwelle gegen die Kurden an. Er kanalisierte die Stimmen der Nationalisten erfolgreich zu seiner Partei. Bei der Neuwahl knapp fünf Monate später errang die AKP wieder jede zweite Stimme. Nun wird befürchtet, dass die AKP – mit neuerlichem Einsatz von Gewalt – versuchen wird, die politische Entwicklung in Istanbul zurückzudrehen.

Das Istanbuler Wahlchaos unterminiert derweil das ohnehin beschädigte Ansehen der Türkei. Das Land ist politisch und wirtschaftlich angeschlagen. Unüberbrückbar scheinende Meinungsverschiedenheiten mit dem Weißen Haus, Ankaras Beharren darauf, russische Raketen zu kaufen und das Aufflammen des syrischen Bürgerkriegs gerade in Idlib, für das die Türkei die Verantwortung übernahm, führen Ankara in eine diplomatische Sackgasse. Die Wirtschaftsdaten sind trotz der Schönmalerei Erdogans besorgniserregend.

Hinzukommen nun erneute Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen. Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der ein Jahr ohne Anklageschrift in Einzelhaft in einem türkischen Gefängnis verbrachte, erhob kürzlich Foltervorwürfe. Gleichzeitig öffnete die französische Justiz erneut ein Dossier und untersucht nun die Beteiligung türkischer Geheimdienste am Mord dreier kurdischen Frauen in Paris.

Angesichts all dieser Unwägbarkeiten erschien es verfrüht, mit der Wahl in Istanbul schon den Anfang des Endes des Erdogan-Regimes zu feiern. Denn gleichgültig ob mit oder ohne demokratische Mittel, Erdogan und seine Anhänger sind nicht bereit ihre Macht ohne Kampf aufzugeben.

Cem Sey
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