Hektisch verabschiedet das Parlament Vorgaben aus Brüssel, die die Strafverfolgung in den EU-Mitgliedstaaten angleichen sollen. Dabei ist es um den Rechtsstaat in Europa gar nicht gut bestellt

Zweifel? Egal!

d'Lëtzebuerger Land du 20.07.2018

Rekordverdächtige 22 Minuten brauchten die Abgeordneten vorvergangene Woche, um die Richtlinie zur Europäischen Ermittlungsanordnung in nationales Recht umzusetzen. Mit 60 Stimmen war es eines der wenigen Projekte dieser Regierungskoalition, die von allen Parteien – von ganz links bis ganz rechts – ohne Gegenstimme gutgeheißen wurde.

Die rasche Verabschiedung hat einerseits damit zu tun, dass Luxemburg, statt europäischer Musterschüler zu sein, wieder einmal Nachzügler ist und die Frist vom 1. April 2018, bis wann die Brüsseler Richtlinie in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollte, bereits deutlich überschritten hat. Es herrschte Zeitdruck, wie so oft bei der Umsetzung von Vorgaben aus Brüssel, wie Léon Gloden von der CSV in seiner Rede bemängelte.

Das erklärt aber nicht, warum die Debatte in der Abgeordnetenkammer so bemerkenswert kurz ausgefallen ist – und warum auch sonst aktuell keine öffentliche Reflexion zum Thema existiert. Der rechtspolitische Sprecher der LSAP, Alex Bodry, hatte von einem „wichtigen Text“ im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik gesprochen, gehe es doch darum, die Spielregeln bei der Kriminalitätsbekämpfung „zu vereinheitlichen“. In dem Zusammenhang soll kommende Woche, in der letzten Sitzungswoche des Parlaments vor der Sommerpause, die Richtlinie zur Unschuldsvermutung noch rasch verabschiedet werden, ein weiterer wichtiger Baustein in den europäischen Harmonisierungsbemühungen im Justizbereich.

Worum es geht: Die Idee der Europäischen Ermittlungsanordnung, die seit 2008 diskutiert wird, ist es, Praktiken der Strafverfolgung in den Mitgliedstaaten einander anzugleichen (Dänemark und Irland sind ausgenommen, Großbritannien hatte sich vor der Brexit-Abstimmung dafür entschieden, sich an der Richtlinie zu beteiligen). Konkret sollen Strafverfolgungsbehörden im Falle grenzüberschreitender Kriminalität ihre europäischen Kollegen um die Vernehmung von Zeugen oder um Hausdurchsuchungen im Ausland bitten können.

So sollen Ermittlungen bei grenzüberschreitenden Straftaten, die mit einer Mindesthaftstrafe von drei Jahren belegt sind, einfacher angeordnet und beschleunigt werden. Statt eine aufwändige Kontrolle im ersuchten Land zu tätigen, um zu schauen, ob die Anordnung rechtens ist, soll ein Formblatt genügen. Die Richtlinie aus Brüssel, die verschiedene Teilregelungen zur Beweiserhebung ersetzt, beruht dabei auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Das heißt: Jeder Mitgliedstaat muss eine Anordnung eines anderen Mitgliedstaats genauso anerkennen und vollstrecken, als handele es sich um eine Entscheidung seiner eigenen nationalen Autoritäten.

Innerhalb von 30 Tagen müssen die Justizbehörden im ersuchten Staat entscheiden, ob sie der Anordnung aus dem Mitgliedstaat Folge leisten, wobei das der Regelfall sein soll. Wird sie bejaht, dann müssen Beamte, in der Regel Polizisten, die Ermittlungen binnen 90 Tagen abschließen. Gegen die Entscheidung können Betroffene keinen Rechtsbehelf erheben. Die Vollstreckung kann nur abgelehnt werden, wenn sie wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Landes zuwiderläuft, nationale Sicherheitsinteressen bedroht sind oder sie gegen Grundfreiheiten, wie in der Europäischen Menschenrechtscharta festgehalten, verstößt.

Die Einschränkung ist wichtig. Denn sie berührt zentrale Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Die gegenseitige Anerkennung beruht auf dem Vertrauen, dass alle europäischen Justizbehörden dieselben Rechtsgarantien leisten. Nur bestehen angesichts jüngster Entwicklungen berechtige und erhebliche Zweifel, ob diese Vorbedingungen heutzutage noch gegeben sind – wenn sie es denn jemals waren. Nicht nur, dass die Justizsysteme der Mitgliedstaaten historisch und philosophisch unterschiedlich gewachsen sind; sie bleiben trotz Harmonisierungsanstrengungen qualitativ sehr unterschiedlich. Und: Es mehren sich Hinweise, dass sich die Rechtslage in immer mehr EU-Ländern verschlechtert. Erst vergangene Woche war Rumäniens führende Anti-Korruptionsstaatsanwältin, Laura Codruţa Kövesi, auf Geheiß des Verfassungsgerichts durch den rumänischen Staatspräsidenten Klaus Johannis, wenn auch widerwillig, entlassen worden.

In seinem Bericht zur Lage des Rechtsstaatlichkeit in Ungarn kam das Europäische Parlament im April zum Ergebnis, dass in dem Land eine „systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte“ herrsche, und es verwies auf Einschränkungen der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit sowie auf eine Schwächung des Verfassungs- und Justizsystems. Darüber hinaus nennt der Bericht Verstöße gegen die Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen sowie Korruption und Interessenkonflikte. Insgesamt sei das Risiko eines Verstoßes gegen EU-Grundwerte gegeben, heißt es in dem Bericht weiter, weshalb das EU-Parlament ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge vorschlägt. Erst im Dezember hatte die EU-Kommission ein solches Verfahren gegen Polen gestartet.

Stefan Braum, Rechtsprofessor an der Juristischen Fakultät der Uni Luxemburg, kommt zu einer pessimistischen Einschätzung: „Die Länder in der EU sind weit davon entfernt, bei der Strafverfolgung auf einer gemeinsamen Basis zu stehen. Im Gegenteil: Statt Vertrauen auszubauen, nimmt gegenseitiges Misstrauen zu.“ Justizminister Félix Braz (Déi Gréng) bestätigte dies kürzlich indirekt, als er von einer Unterredung mit der deutschen Bundesjustizministerin Katarina Barley berichtete, die Bedenken in punkto Rechtsstaatlichkeit und gegenseitiges Vertrauen geäußert und auf hohe Rechtsstandards in der gesamten EU gepocht habe.

Braum, Spezialist im Europäischen Strafrecht, weist noch auf einen anderen Aspekt hin: Er bezweifelt, dass für Beschuldigte (also potenziell auch Luxemburger) die nötigen gleichen Schutzgarantien in allen Mitgliedstaaten gegeben seien. Außerdem gehe es nicht nur um Vernehmungen, sondern beispielsweise auch um die Übermittlung von geheimen Telefonaufnahmen. Im Bereich der Strafverfolgung sei der Datenschutz in Europa „lückenhaft“ und nicht durch die EU-Datenschutz-Grundverordnung geregelt. Auch fehle ein europäisches Strafprozessrecht, das die Rechte der Verteidigung präzise und europaweit einheitlich festschreibt. Zwar hat die Europäische Kommission hier Fortschritte gemacht, etwa mit der Richtlinie zur Prozesskostenhilfe oder zur Übersetzung wichtiger Prozessunterlagen in Strafverfahren, aber die Justizbehörden in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten sind bei der Umsetzung unterschiedlich weit.

Was technisch klingt, hat für die Betroffenen bei grenzüberschreitenden Ermittlungs- und Strafverfahren konkrete Folgen: Wie können sie kontrollieren, ob eine Ermittlungsanordnung rechtmäßig war, wenn sie in einem anderen Land geschieht, beziehungsweise wer kontrolliert das für sie, wenn sie das Prozessrecht und die Sprache nicht kennen? „Es gibt kein europäisches Strafverteidigernetz, auf das ein Beschuldigter zurückgreifen kann“, betont Braum.

Die Abgeordneten in der Chamber, darunter Anwälte, die die rechtsstaatlichen Einwände kennen müssten, verabschiedeten den Entwurf gleichwohl einstimmig und ohne ernsthafte Fragen zu stellen. Sogar die Abgeordneten von déi Lénk und Déi Gréng, die sich ansonstrn Grundrechteschutz auf die Fahnen schreiben. Was noch ins Auge sticht: Während die Gerichte und die Generalstaatsanwaltschaft den Text begutachtet und in weiten Strecken begrüßt haben, verständlicherweise, denn sie versprechen sich dadurch bessere und zügigere Ermittlungsergebnisse in Fällen grenzüberschreitender Kriminalität, fehlt eine Stellungnahme der Rechtsanwaltskammer. Zur EU-Richtlinie über die Unschuldsvermutung, die nächste Woche vom Parlament verabschiedet werden soll, liegt sogar nur ein, teils kritisches, Gutachten des Staatsrats vor. Auf der Chamber-Internetseite fehlen komplett Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft, der Gerichte sowie der Rechtsanwälte.

Weder der Präsident der Anwaltskammer, François Prum, noch sein Stellvertreter François Kremer beantworteten eine diesbezügliche Nachfrage des Land bis Redaktionsschluss, dabei nahm auch Alex Bodry die fehlenden Stellungnahmen mit sichtlichem Erstaunen zur Kenntnis, immerhin wurde mit dem Gesetz zur Europäischen Ermittlungsanordnung zugleich der Videobeweis in sämtlichen Abschnitten für Strafverfahren zugelassen, ein in vergangenen Jahren hochumstrittenes Vorhaben. Justizminister Félix Braz erklärte, Vertreter der Strafverteidiger hätten an der zuständigen Arbeitsgruppe im Justizministerium teilgenommen. Trotzdem bleibt die Stille bemerkenswert.

Kolleginnen und Kollegen der Bundesrechtsanwaltskammer in Berlin, Dachverband unterschiedlicher Anwaltsvereinigungen aus ganz Deutschland, etwa verfolgen die Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene seit Jahren akribisch – und zunehmend kritisch. So heißt es in einem Gutachten zur EU-Ermittlungsanordnung: „Die Bundesrechtsanwaltskammer erinnert daran, dass der Ausbau des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung (...) angesichts des gegenwärtigen Standes der Integration innerhalb der Union zu einer Bedrohung der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes führt.“ Das Gutachten stammt vom Januar 2011, inzwischen hat sich die Lage in Europa in punkto Rechtsstaatlichkeit rapide verschlechtert, wie das von der EU-Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen massiver Eingriffe in die Justiz durch die Politik zeigt. Stefan Braum spricht von einer „Krise des europäischen Rechtsstaats“, ein bedenklicher Trend, der in Luxemburg aber „kaum wahrgenommen“ werde, „als sei das Land eine Insel der Seligen“. Die Politik in Brüssel und in Luxemburg hinke den realen Entwicklungen hinterher, so Braum, der vor einer weiteren Harmonisierung bei gleichzeitig fehlenden Rechtsgarantien in den EU-Mitgliedstaaten warnt.

Trotzdem stimmten die Abgeordneten der Umsetzung in nationales Recht zu. Gilles Roth (CSV) äußerte am Donnerstag während der Debatte über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten bei Verdacht auf Wirtschaftskriminalität, eine weitere EU-Richtlinie, zwar Bedenken und fragte gar, ob eine Umsetzung gegen die Verfassung verstößt. Dem Gesetz stimmte Roth trotzdem zu – weil Luxemburg im Zeitplan hinterherhinke. So ähnlich dürfte es auch kommende Woche ablaufen. Bloß: Wenn die, die es besser wissen müssten, Abgeordnete, Richter, Rechtsanwälte, es nicht tun: Wer wacht dann darüber, dass bei der EU-weiten Angleichung der Strafverfolgung die Rechte der Verteidigung gewahrt bleiben und der Schutz des Bürgers vor einem immer tiefer in Grundrechte eingreifenden Staat nicht vollends unter die Räder gerät?

Ines Kurschat
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