Brick Lane, eine hippe Straße im Londoner East End, ist auch an Wochentagen sehr belebt. An einem Mittwochabend im Januar stehen die Menschen für Backwaren vor der Brick Lane Bagel Bake geduldig Schlange, im Rough Trade Plattenladen sind die Lichter gedimmt für ein Konzert. Kunstfreunde drängen sich zur Eröffnung der Ausstellung Breaking Boundaries in die Brick Lane Gallery, wo auch Werke von Jeannine Unsen, der luxemburgischen Fotografin, ausgestellt sind. An der improvisierten Bar in der Galerie schenkt ein Mitarbeiter billigen, aber dafür kostenlosen Wein aus. Die Stimmung ist gelassen. Für Jeannine Unsen kam die Einladung sehr unerwartet: Im Dezember setzten sich Kuratoren mit ihr in Verbindung, drückten ihr Interesse an ihrer Stickarbeit aus. Ob sie nicht im Januar nach London kommen wolle? Die Fotografin ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen.
„Man erhält ja nicht jeden Tag eine Einladung von einer Galerie in London. Da dachte ich, nehme sie an und mach dir ein paar schöne Tage in der Stadt, besuche ein paar Freunde,” so Unsen, in einem Gespräch kurz vor der Eröffnung. Die Kosten für die Reise trug die Künstlerin selbst, ihre Kunstwerke flog sie persönlich nach London.
The Four Winds heißt die Serie, mit der sie anreiste. Es handelt sich hier um vier Portraits einer Frau, der Jeannine Unsen farbige Masken und Kostüme aufgestickt hat. Der Ausdruck der Frau wirkt entspannt, die Stickerei strahlt eine leuchtende Wärme aus. Neben den anderen Werken, die in der kleinen Galerie recht nahe nebeneinander hängen, bietet ihre Kunst eine gewisse Ruhe, die viele Besucher anspricht. Immer wieder bleiben Leute vor den Portraits stehen und schauen genauer hin. Jeannine Unsen suchte das Gespräch mit den Besuchern – sie hört zu, beantwortet Fragen und lacht mit ihnen. Der Kontakt mit den Menschen scheint ihr Freude zu bereiten.
Dabei erwägte die Fotografin vor kurzem, die Kunst an den Nagel zu hängen. Die Fotografin erzählt von einer tiefen Krise.
„Im letzten Jahr habe ich mich oft gefragt, für wen oder wofür ich das hier überhaupt mache,“ so Unsen. “Als Künstler steckst du dein ganzes Herzblut in diese Arbeit, deine Energie, dein Geld.” Und die Kosten seien dabei trotz staatlicher Hilfe für Künstler immer noch sehr hoch. “Jeder will Kunst und Kultur, aber es wird nicht richtig dafür bezahlt. In Ausstellungen werden Künstler noch immer nicht bezahlt, und als Fotografin hat man hohe Produktionskosten, die man selbst tragen muss“, sagt sie.
Neben diesem Druck fiel Jeannine Unsen zugleich in ein Kreativitätsloch. „Ich habe noch viele Portraits zu Hause liegen, die ich nie gezeigt habe. Ich habe immer gedacht, irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas passt nicht bei dieser Arbeit, und ich verstehe einfach nicht, warum. Ja, es sind schöne Bilder, aber ich habe sie angeschaut und nichts mehr dabei empfunden. Und ich habe mich gefragt, warum ist das so, was fehlt?“
Es war eine amerikanische Fotografin, die ihr in einem Workshop im CNA letzten Sommer aus der Krise verhalf. Caroline Drake, die berühmte Fotografin der Magnum Agentur, versicherte ihr, dass ein Burnout ganz normal sei in einer langen Karriere wie die von Jeannine Unsen, die bereits seit mehr als zwanzig Jahren Kunst schafft. „Sie ist ein bisschen älter als ich und versteht halt auch, in welcher Lebenszeit ich mich befinde. Sie nahm mir viel Druck weg,“ erinnert sich die 49-jährige. Sie experimentierte mit neuen Ausdrucksweisen um eine neue Verbindung zu ihrer Fotografie zu finden. Dann fing sie an, auf die Photos zu sticken.
“Ich wollte unbedingt, dass eine neue Struktur auf meinen Photos entsteht, dass sie nicht mehr so flach und zweidimensional ist. Dass es haptisch wird und dass man Lust hat, es anzufassen,” so Unsen.
In vielen Werken benutzt sie die Technik der französischen Knoten, mit der sie auf ihren Fotos kleine, präzise Knötchen stickte, die farbige Akzente setzen. Plattstiche, mit denen man größere Flächen füllen kann, wandt sie vor allem in The Four Winds an. Die Knoten und Verwebungen öffneten eine neue Bedeutungsebene: Die Masken und Kostüme in The Four Winds stellen Identitätsbewusstsein infrage.
„Wer bist du, wenn du nicht mehr deine Konditionierungen hast, wenn du nicht mehr deine Konventionen hast? Wenn du deinen Job nicht mehr hast, wenn du deine Kleidung nicht mehr hast, wenn du vielleicht deine Familie nicht mehr hast, wenn du dein Haus nicht mehr hast – wer bist du dann noch?“ So erklärt Jeannine Unsen das Werk, dem in der Brick Lane Gallery viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Jeannine plaudert mit einem Mann, der sich als Kunstsammler vorstellt. Er scheint den Kauf einiger der Werke zu erwägen, verlässt kurz die Galerie, um ein Telefongespräch zu führen.
Obwohl die Stickarbeit Jeannine Unsens Nacken und Finger stark beanspruchte, fand sie die Arbeit entspannend. Vielleicht liegt das auch an den bedeutsamen ersten Stichen, die sie legte. Und zwar war das ein Portrait ihrer Freundin, der Cellistin Lisa Berg, die 2017 an den Folgen von Leukämie starb. Die Musikerin hatte Jeannine Unsen gebeten, ein Portrait von ihr im Krankenhaus zu machen. „Also sie gestorben war, schaute ich mir das Foto an und ich hatte plötzlich Lust, ihr einen gestickten Blumenkranz aufzusetzen,“ so die Fotografin. Es folgte ein autodidaktisches Eintauchen in die Welt der Stickerei, bei der Youtube Videos und auch die Kenntnisse von “Tanten” weiterhalfen. Der Austausch mit Frauen war schon immer Leitfaden in Jeannine Unsens Kunst, nun wurde er auch Teil ihrer Entwicklung als Künstlerin.
Zukünftig will sich die Fotografin mit einem universellen Thema beschäftigen. Sie recherchiert gerade für ein Projekt, das sich mit hormonellen und psychischen Transitionen der Frau beschäftigt. „Ich finde es schrecklich, dieses Narrativ, das man immer hört, dass Frauen in Reportagen sagen, sie hätten das Gefühl, zu verschwinden, nicht mehr gesehen zu werden,“ so Jeannine Unsen. Die körperlichen Symptome von Peri-menopause sind in der Medizin weitreichender erkundet als die psychischen Veränderungen, mit der sich Jeannine Unsen beschäftigt. Ihre Motivation ist es, eine Einladung zu schaffen, „diese bestimmte Lebenszeit anders zu erleben, und zu verstehen, dass man mit einer ganzen neuen Kraft aus ihr herauskommt,” so die Fotografin. Sie hofft, mit dem neuen Werk auch junge Frauen anzusprechen, ihnen Eindrücke zu vermitteln über einen Lebensabschnitt, der in der Gesellschaft immer noch unzureichend – und oft herablassend - thematisiert wird.
Wie genau das neue Werk aussehen wird, wird sich noch herausstellen. Gewusst ist jedoch, dass es im Herbst eine Ausstellung im Düdelinger Centre d‘Art Nei Liicht geben wird.
In London ist es zum Verkauf zweier Werke gekommen. Der Kunstsammler hatte knallhart verhandelt, doch es wurde ein Kompromiss gefunden. Jeannine Unsen ist sichtlich erfreut.