Das Bettelverbot wirft allerhand ethische Fragen auf – nicht zuletzt die nach dem Recht auf Menschenwürde. Vergangene Woche veranstaltete die Erwuessebildung Asbl einen Gesprächsabend zum Thema Armut und Menschenwürde

Eine Frage der Verantwortung

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2024

Zyniker könnten meinen, das Bettelverbot in der Innenstadt käme im Endeffekt den Bettlern zugute. Armut ist oft schambelastet und Menschen schämen sich, als arm wahrgenommen zu werden. Indem die Stadt Luxemburg sie aus dem Sichtfeld verbannt, tut sie ihnen somit also einen Gefallen. Natürlich ist dies eine sehr zynische Sichtweise, eine, die viele Faktoren unbeachtet lässt. Einer ist die Gewichtung der Auswirkungen des Bettelverbots, ein anderer ist, dass Scham keine automatische Folge von Armut ist. Nicht alle Menschen, die wenig Geld haben, schämen sich dafür, hebt Arnd Pollmann hervor. Der deutsche Philosoph war am Mittwoch vergangener Woche auf Einladung der Erwuessebildung Asbl (EWB) in Luxemburg, um gemeinsam mit dem Luxemburger Psychotherapeuten und Menschenrechtler Gilbert Pregno über Menschenwürde und Menschenrechte zu diskutieren. Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Gilbert Pregno der ehemalige Präsident der Menschenrechtskommission.

Beide sind sich einig: Ob Armut Scham hervorruft, hängt unter anderem davon ab, ob sie freiwillig ist oder nicht. „Wenn ich selbst entscheide, als Eremit zu leben, betteln zu gehen oder ins Moos zu ziehen mit meinem Saxofon, kann es sein, dass ich objektiv betrachtet in Armut lebe“, sagt Arnd Pollmann. „Aber diese Art von Armut ist selbst gewählt, als Herausforderung, aus der man vielleicht die eigene Selbstachtung zieht.“ Er unterscheidet drei Arten von Armut: die materielle Armut, die Armut an sozialen Kontakten und die Armut an positiven Aussichten. „Als Student hatte ich sehr wenig Geld, aber ich hatte ein Netz von sozialen Beziehungen, und ich hatte die Aussicht darauf, dass ich irgendwann mit diesem Studium was anfangen kann.“ Viele Menschen, die unfreiwillig in Armut leben, haben diese Aussicht nicht. Diese Aussicht rückt noch weiter in die Ferne, da es schwer ist, wieder in ein geregeltes Leben zu finden, wenn man einmal auf der Straße landet. Denn vereinfacht gesagt, gilt: Wer einen Arbeitsvertrag möchte, braucht eine Wohnanschrift. Zum Wohnen braucht man jedoch Geld, also Arbeit. Die Gleichung geht nicht auf. Gilbert Pregno nennt diese Aussicht Hoffnung. Er habe Menschen gesehen, die sehr arm sind, aber Hilfen und Angebote aus Selbstschutz nicht annähmen. „Wenn ich die Erfahrung gemacht habe – und oft ist es eine generationsübergreifende Erfahrung –, dass es nicht besser wird, ist das ein Schutz für mich.“ Menschen schützen sich vor Enttäuschung und ziehen sich zurück, um ihre Selbstachtung zu wahren.

Die Frage der Selbstachtung ist entscheidend. Für Arnd Pollmann ist verkörperte Selbstachtung das, was allgemein als Würde bezeichnet wird. Die eigene Würde nehme man immer im Verhältnis zu anderen wahr – ähnlich wie Scham vor allem durch die gefühlte Wahrnehmung der anderen hervorgerufen wird. Gilbert Pregno sagt, dass Scham nichts anderes als verletzte Würde sei. Schon kleine Kinder hätten ein Gefühl der Würde und verstünden, wenn diese verletzt wird. Menschen, deren Würde immer wieder verletzt wird, ziehen sich schließlich in sich selbst zurück, damit diese Verletzung nicht von anderen gesehen wird. So schließen sie sich selbst weiter aus der Gesellschaft aus und die Armut an sozialer Teilhabe verstärkt sich.

Zwar hat jeder Mensch, Immanuel Kant zufolge, die Verantwortung, die eigene Würde vor Angriffen zu verteidigen. Doch sind nicht alle den gleichen Angriffen ausgeliefert. In eine Familie geboren worden zu sein, in der Selbstachtung anerzogen wird, ist kein eigenes Verdienst – ähnlich wie Reichtum und Armut in der Regel nicht selbstverdient oder selbstverschuldet sind. Nora Schleich, Projektkoordinatorin bei der EWB und promovierte Philosophin, zitiert den britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der von the skillfull and the fortunate spricht. Das kapitalistische System fördere bestimmte Fähigkeiten und Talente. „Zufälligerweise sind diese Menschen gut mit Zahlen und mit Sprachen, und wenn man diese Fähigkeiten hat, kann man sie so ausbauen, dass man viel Geld damit verdient, und dann ist es auch leicht, das Geld zu vermehren“, sagt Nora Schleich. „Es ist kein eigenes Verdienst, und das müsste man sichtbar machen.“ Umgekehrt ist Armut in der Regel nicht selbstverschuldet. Und nicht alle Menschen haben das passende Skillset, um in dieser Gesellschaftsform zu blühen.

Daraus folgt eine Frage der Verantwortung. Ist eine Regierung, die sich den Menschenrechten verpflichtet, dafür verantwortlich, diese unfaire Verteilung von Fähigkeiten zu kompensieren? Nora Schleich zufolge ist sie zumindest in der Pflicht, den Mythos der Leistungsgesellschaft, in der alle für ihren eigenen Erfolg und Misserfolg verantwortlich sind, aus der Welt zu schaffen und auf die ungleiche Chancenverteilung aufmerksam zu machen. Für Arnd Pollmann ist die Mindestverantwortung der politischen Machthaber eine würdevolle Haltung gegenüber denen, die in unfreiwilliger Not leben.

Arnd Pollmann kritisiert die Einstellung der Regierenden gegenüber Menschen in Armut: „Es gibt eine ungeheure Arroganz der Machthabenden gegenüber den Armen, gepaart mit teilweiser Unwissenheit.“ Die Unwissenheit darüber, wie es ist, arm zu sein, war nicht nur unter den französischen Adligen während der Revolution verbreitet. Noch heute haben viele Politiker lange nicht mehr das Innere einer Straßenbahn gesehen, die sie im Dienstwagen überholen. Der Uringeruch der Gassen ist in den oberen Etagen der Ministerien nicht zu riechen. „Wir dürfen ihnen weder die Unwissenheit noch die Arroganz durchgehen lassen“, sagt Pollmann. Die Frage, wie eine würdevolle Haltung gegenüber Menschen in unfreiwilliger Not aussehen kann, ist noch nicht beantwortet. Der erste Artikel im deutschen Grundgesetz sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar. Auch Luxemburg hat sich der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet, durch die Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Der Staat muss laut Artikel 22 allen Menschen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte gewähren, die für die eigene Würde und die freie Entwicklung der eigenen Persönlichkeit unentbehrlich sind. Ein weiterer Ausschluss von sozialer Teilhabe wirkt dem entgegen.

Franziska Peschel
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