Deutschland / Europa

Etikettenschwindel

d'Lëtzebuerger Land du 13.10.2017

Nun ist es ein Richtwert, keine Obergrenze, der Verhandlungen in Deutschland zu einer sogenannten Jamaika-Koalition ermöglichen soll. Vor Beginn der Sondierungsgespräche zwischen Christdemokraten, Christsozialen, Liberalen und Grünen haben sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer auf eine neue Sprachregelung geeinigt. Seehofer glaubt tatsächlich, allein mit dem Instrument „Obergrenze“ die rechtsradikale AfD pulverisieren und das konservative Wählerpotenzial in Deutschland hinter CDU und CSU vereinen zu können. Er übersieht dabei, dass schon allein eine Obergrenze an sich, für AfD-Sympathisanten zu viel der Zugeständnisse an Flüchtende ist, denn sie wenden sich gegen jedwede Zuwanderung.

Die Diskussion um den Obergrenzen-Richtwert hat seine europäische Dimension. Im vorvergangenen und letzten Jahr flüchteten mehr als eine Million Menschen in die Europäische Union. Die Regeln der Union für deren Aufnahme funktionierten nicht mehr, denn eigentlich sollte derjenige Staat für die Flüchtenden zuständig sein, in dem die Menschen zuerst EU-Boden betraten. Eine Komfortzone für alle mittel- und nordeuropäischen Mitgliedsstaaten, doch Griechenland oder Italien waren dem Ansturm nicht mehr gewachsen. Viele reisten weiter nach Deutschland.

Zu Beginn des diesjährigen Bundestagswahlkampfs forderte die CSU daher eine Obergrenze für Flüchtlinge: Nur noch 200 000 Menschen dürfen nach Deutschland. Pro Jahr. Er untermauerte seine Forderung mit einem Rechtsgutachten von Udo di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht. Quintessenz dessen, so Seehofer: Eine unkontrollierte Einreise sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Di Fabio schreibt, dass die Bundesregierung „zumindest einstweilen die gesetzmäßige Sicherung der Bundesgrenze gewährleisten“ müsse, wenn die Flüchtlingskrise nicht durch eine europäische Lösung bewältigt werden kann. Eine Obergrenze kommt in dem di Fabio-Papier allerdings nicht vor.

Doch europäisches Recht geht vor deutschem. Demnach ist Deutschland an die Dublin-Verordnung gebunden, die genau vorgibt, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Christine Langenfeld, Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, dazu: „Eine feste Obergrenze für Schutzbedürftige ist mit dem europäischen Recht nicht vereinbar.“ Wenn sich andere EU-Staaten nicht mehr an die Dublin-Regeln hielten, rechtfertige dies keinesfalls, dass auch die Bundesrepublik diese Vorgaben nicht beachte. Daniel Thym, Dozent unter anderem für Europarecht an der Universität Konstanz, dazu in der Tageszeitung Münchner Merkur: „Wenn man Menschen an der Grenze zurückweisen will, muss man nicht den Umweg über die Obergrenze gehen.“ Im Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise in der Europäischen Union (AEUV) seien „die Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ festgeschrieben. Eine Notstandssituation mache das Abweichen vom EU-Recht möglich. Wenn denn tatsächlich eine solche Notstandssituation vorliegt. Hierüber streitet die politische Elite.

Doch in Hinblick auf Europa drängt sich aus der Diskussion um Obergrenze oder Richtwert vor allen Dingen eine Frage auf: Was folgt daraus – sollte der Flüchtlingsdeal mit der Türkei scheitern, die Regierungen entlang der Balkan-Route diese wieder freigeben und es zu einem neuerlichen Zustrom von Flüchtlingen nach Mitteleuropa kommen, und Deutschland auf eine Obergrenze beharren?

Der geplanten Jamaika-Koalition haben Horst Seehofer und seine Christsozialen einen Bärendienst erwiesen – an dem Tag, an der er die Begrenzung im Bayernplan, dem Wahlkampfprogramm der CSU, festschrieb und damit seinen Wählern versprach. Nun konnte er nicht anders, als darauf zu beharren, denn es geht um sein Amt und um seine Posten. Mögliche Nachfolger sägen in München schon am Stuhl des CSU-Parteivorsitzenden. Er bringt lieber Bundeskanzlerin Merkel in eine verzwickte Verhandlungsposition, denn seine Gedankenspiele – auch im europäischen Rahmen – zu Ende zu denken. Für die anstehenden Koalitionsverhandlungen bedeutet dies, dass nun alle Parteien von ihren Maximalpositionen abweichen müssen. Mit mehr oder weniger Gesichtsverlust. Dabei hilft ein Blick in die Statistik: Nur etwa ein Prozent der Menschen, die sich in Deutschland als Flüchtlinge registrieren lassen, sind asylberechtigt. Wirtschafts- und Demografieexperten fordern schon lange, dass Deutschland aufgrund seiner schrumpfenden Bevölkerung eine jährliche Zuwanderung von etwa 400 000 Menschen benötigt. Die Politik möge den kleinsten gemeinsamen Nenner der beiden Positionen finden, unter Berücksichtigung geltenden europäischen Rechts.

Außen vor sind die Wähler, denen wieder Wortklaubereien als Visionen und Lösungskompetenz verkauft werden. Verknappte Schlussfolgerung daraus: Menschen wenden sich weiter von etablierten Parteien ab, um sich radikalen oder extremen Parteien zuzuwenden, was beim Establishment wieder Aktionismus hervorruft.

Martin Theobald
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