Die Handelskammer ist wesentlich wohlhabender, als sie das bisher nach außen dargestellt hat

1,2,3 Äppel fir den Duuscht

d'Lëtzebuerger Land du 13.10.2017

Egal, wie man es dreht und wendet: Als Carlo Thelen, Direktor der Handelskammer, bei der Vorstellung der Jahresbilanzen für die Jahre 2014 und 2016 von „50 Millionen Euro“ in den Reservefonds der Handelskammer sprach, gab er damit kein vollständiges Bild ihrer tatsächlichen Vermögenssituation ab. Denn den Berechnungen des Land zufolge, die einerseits auf internen Unterlagen der Handelskammer beruhen, sowie andererseits auf den Informationen, die von der Handelskammer selbst veröffentlicht werden, beliefen sich die Ersparnisse im Fonds pour la péréquation conjoncturelle (FPC) vergangenen Mai auf 75 Millionen Euro und im Fonds pour la promotion de l’intérêt économique général hatten sich 34,4 Millionen angesammelt, insgesamt demnach 110 Millionen Euro. Vom Land vergangene Woche nach der Differenz befragt, versuchte Carlo Thelen zu erklären, dabei handele es sich um ein Missverständnis.

Die Schaffung der beiden Fonds fällt in die erste Amtszeit von Michel Wurth als Handelskammerpräsident. Der FPC, sagt er, sei „den Apel fir den Duuscht“, die Reserve, mit der die laufenden Ausgaben der Handelskammer gedeckt werden sollen, wenn die Mitgliedsbeiträge der Finanzbeteiligungsgesellschaften (Soparfi) nicht mehr so stark sprudeln. Wurth vergleicht sie mit den Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel im Staatshaushalt. Mit den Geldern aus dem FPIEG soll die Handelskammer investieren, im Sinne des wirtschaftlichen Allgemeinwohls. Laut Wurth steht der Zähler im FPC aktuell knapp unter dem Ziel, zweimal die laufenden Jahresausgaben abdecken zu können. Vergangenes Jahr beliefen sich die laufenden Ausgaben auf 29 Millionen Euro, womit sich ein Kontostand von knapp unter 60 Millionen ergeben würde. Der FPC, dessen Funktionsweise nicht öffentlich ist, erklärte Thelen gegenüber dem Land, darf erst angezapft werden, wenn die Handelskammer ein Defizit ausweist. Das ist seit der Schaffung des Fonds nie passiert, er befindet sich demnach in der Akkumulierungsphase und in ihren Jahresbilanzen hat die Handelskammer seit 2007 davon berichtet, den Fonds mit 69,2 Millionen Euro gespeist zu haben. Weniger Geld dürfte demnach nicht im Fonds sein.

Von diesem Fonds will Carlo Thelen ohnehin nicht geredet haben, als er von den „50 Millionen Euro“ sprach, sondern nur vom FPIEG. Dort steht der Zähler laut Michel Wurth aktuell auf rund 20 Millionen Euro. Die Differenz erklären Wurth und Thelen durch die in den vergangenen Jahren getätigten Investitionen. Sie zählen auf: Für die Baubranche habe man in die Luxexpo investiert (2015: sieben Millionen Euro), wegen der für sie wichtigen Herbstmesse. Für den Handel und das Gaststättengewerbe habe man das Kapital der Mutualité de cautionnement et d’aide aux commerçants aufgestockt (2016: 3,5 Millionen Euro). Sie soll in Zukunft öfter für Bankredite bürgen, nicht nur an Händler und Restaurateure, sondern auch an innovative Start-ups. Ins House of Training (2015: eine Million Euro), in Luxtrust (2016 und 2017, anteilig an Kapitalerhöhungen von insgesamt 1,6 Millionen Euro) und in die Teilnahme an der Weltausstellung in Dubai 2020 (ab 2017 bis 2020: zwei Millionen Euro), ins House of Start-Ups, den hauptstädtischen Firmen­inkubator (2017: 30 000 Euro) investiere man. Insgesamt 20 Millionen Euro so Wurth, „im Interesse der Wirtschaft und unserer Mitglieder“. Davon lassen sich via Firmenregister rund 14 Millionen Euro nachvollziehen. Die Differenz erklärt Wurth mit Investitionen in Immobilien und langfristigen Mietverträgen, beispielsweise der Miete für den ehemaligen Firmensitz der Kanzlei Arendt&Medernach, gegenüber der Handelskammer gelegen, wo das House of Entrepreneurship untergebracht ist oder der für das House of Start-Ups.

Über die Angaben, welche die Handelskammer in ihren Jahresberichten über ihre Ausgaben und über die Auflösung von Reserven aus dem FPIEG macht, lässt sich nicht prüfen, wie viel der Fonds investiert hat. Denn ihren eigenen, öffentlichen Angaben zufolge, hat die Handelskammer seit 2013 von den in den FPIEG eingezahlten Beträgen über reprises rund 5,1 Millionen Euro wieder herausgeholt, keine 20. Dass es aber zumindest in der Vergangenheit einen Zusammenhang zwischen den reprises aus dem FPIEG und den Investi­tionen gab, zeigt die Präsentation, die der Vorstand der Handelskammer bei der Hauptversammlung 2013 über das abgelaufene Finanzjahr machte und über die das Land verfügt. Darin erklärt der Vorstand, 2012 447 622,45 Euro aus dem Fonds zurückgeholt zu haben, um mit 200 000 Euro bei einer Kapitalerhöhung von Luxtrust mitgemacht und genau 247 622,45 Euro in die Finanzierung des Projektes 2030.lu investiert zu haben. Die reprise entspricht exakt dem Investitionsbetrag.

Diese Inkohärenzen belegen vor allem, wie undurchsichtig die Finanzlage der Handelskammer ist. Denn ihr Vermögen beschränkt sich nicht auf die beiden Fonds FPC und FPIEG. Im Dezember 2009 erwarb sie über einen Share-Deal für 15 Millionen Euro das ehemalige Quartier der IKB International gegenüber ihrem eigenen Sitz, wo heute die Verbände der Finanzbranche ABBL, Alfi und die Promotiongesellschaft Luxembourg for finance untergebracht sind. Trotz allgemeinen wirtschaftlichen Interesses zahlen die Verbände Miete, die Wurth „für Kirchberg billig“ nennt. Wie viel Provisionen und Rückstellungen die Handelskammer sonst noch gebildet hat? In internen Unterlagen aus dem Jahr 2013, deren Herkunft Wurth und Thelen in Frage stellen, wird das Vermögen der Handelskammer definiert als Eigenkapital plus langfristige Schulden und Provisionen minus die Nettoinvestitionen minus die mathematische Reserve für die Zusatzrenten auf rund 100 Millionen beziffert. Bis 2017, so die Entwicklungsvorhersage (mit konservativen Annahmen über die Entwicklung der Mitgliedsbeiträge), würde es voraussichtlich auf 160 Millionen Euro ansteigen.

Dass die Handelskammer so viel Geld auf der hohen Kante hat, liegt daran, dass sich ihre Einnahmen sehr viel besser entwickelt haben als gedacht. In einem 2013 erstellten Dokument, das dem Land vorliegt, spielte die Handelskammer Szenarien über die Entwicklung der Mitgliedsbeiträge durch. Im Szenario „worst case“ sah sie beispielsweise für das Jahr 2016 Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen von 31,5 Millionen Euro vor, im Szenario „Business as usual“ waren für 2016 Mitgliedsbeiträge von 35 Millionen vorgesehen. In Wirklichkeit beliefen sie sich die Beiträge laut Jahresbericht 2016 auf 43 Mil­lionen Euro. Und auch in den Jahren davor fielen sie wesentlich höher aus, als erwartet. 2013 belief sich der Soparfi-Anteil an den Beiträgen auf 40 Prozent.

Das Geld sprudelte dermaßen schnell, dass die Commission aux Comptes laut Sitzungsprotokoll vom Januar 2014 vorschlug, die Deckelung für die Speisung der beiden Reservefonds aufzuheben, weil sie wiederholt überschritten wurden. Dann musste die Plenarversammlung abstimmen, um zu entscheiden, was mit den Überschüssen passieren sollte. „(...) les études menées font ressortir que la simple suppression des plafonds pour les 2 fonds de réserve semble être la solution la mieux adaptée afin de faciliter la gestion des fonds de réserve en vue de nouveaux dépassements des plafonds.“ Ein wenig Zweifel waren wohl aufgekommen, daran, ob der Aufbau eines solchen Fonds für Investitionen noch mit den gesetzlichen auferlegten Missionen der Handelskammer zu vereinbaren sei. „En outre la Commission des Comptes recommande également de modifier l’objectif du fonds de promotion de l’intérêt économique général pour préciser les utilisations futures de ce fonds et pour mieux coller avec les missions telles que définies dans la loi du 26 octobre 2010 réorganisant la Chambre de Commerce.“ Am besten sollte die Plenarversammlung nicht mehr über die zu hohen Überschüsse abstimmen müssen: „il est fortement recommandé de suivre ces propositions (...) et de demander à l’assemblée plénière du 29 janvier 2014 de voter les modifications proposées afin de s’assurer que plus aucune prononciation future des assemblées plénières n’est requise en matière de dépassements des plafonds.“

Darüber hinaus, „il est encore à préciser que le financement des investissements immobiliers rentre dans l’objectif du fonds de promotion de l’intérêt économique général, tel qu’il est proposé de le modifier.“ Die Auflösung der Rückstellungen aus dem Fonds, die „reprises“, würden dann auf Basis der Amortisierungen dieser Immobilieninvestitionen erfolgen. Außer dem Gebäude der IKB, in dem die Verbände der Finanzbranche ihren Sitz haben, habe sie aber keine weiteren Immobilien erworben, so Michel Wurth gegenüber dem Land.

Vielleicht ist es also auch ein bisschen darauf zurückzuführen, dass die Plenarversammlung sich nicht mehr überlegen muss, was sie mit den Ersparnissen anfängt, dass es, wie Michel Wurth sagt, mit den Mitgliedern „keine Diskussion“ über die Finanzierung durch die Beiträge und die im Gegenzug erbrachten Leistungen gibt. Denn ganz so, also ob nie jemand die Beitragshöhe in Frage gestellt habe, ist es nicht. Die Soparfi hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten, nachzuvollziehen, warum sie der Handelskammer Beiträge zahlen sollten und hatten sich vor Gericht dagegen gewehrt. Über Jahre dauerten die Prozesse an. Daher räumt Michel Wurth ein, es sei ein „bisschen berechtigt“ gewesen, das Gesetz anzupassen, um eine eigene Mitgliedskategorie für die Soparfi mit einem kleinen, pauschalen Mitgliedsbeitrag einzuführen. Ironie, dass die Arbeitgeberverbände die Steuerreform des ehemaligen Handelskammerdirektors Pierre Gramegna auch mit der Aussage kritisierten, die Soparfi hätten keine Gewerkschaft, weil der Finanzminister die Mindeststeuer für Finanzbeteiligungsgesellschaften hochschraubte?

Das Gesetz, mit dem die Handelskammer 2010 zur öffentlichen Einrichtung wurde, gibt ihr eine derart einzigartige Position, dass der Staatsrat ein selten geharnischtes Gutachten dazu schrieb. Er warnte vor einer Sonderstellung der Handelskammer gegenüber den anderen Berufskammern, deren Grundlage das Gesetz von 1924 blieb. Die Mis­sionen der Handelskammer sind im neuen Gesetz extrem weit gefasst, so dass ihr mit ein wenig gutem Willen im Sinne des wirtschaftlichen Allgemeinwohls auch Immobiliengeschäfte erlaubt und die Finanzierung von Initiativen wie 2030.lu abgedeckt sind, um den Ausgang von Parlamentswahlen zu beeinflussen. Denn ist eine wirtschaftsliberalere Regierung herbeizuführen, in der dann der Direktor der Handelskammer das Amt des Finanzministers besetzt, etwa nicht „œuvrer en faveur de tout ce qui contribue à la défense et à la promotion de l’intérêt des ses ressortissants“?

Im Gesetz über die Reorganisation der Handelskammer steht explizit, dass die Handelskammer den Staatshaushalt begutachtet, aber nicht, dass sie der Regierung – die sie bezuschusst – Rechenschaft über ihre Finanzen ablegt. Sie ist demnach „finanziell autonom“, alle in Luxemburg etablierten Firmen sind automatisch Mitglied und müssen Beiträge zahlen, manchmal auch die, die bei der Handwerksammer Mitglied sind. Sogar eine Firmenauflösung befreit nicht von den Beitragspflicht. So gesehen, sind die Beiträge der Handelskammer eine krisensichere Einnahmequelle als die Steuern, die der Staat erhebt. Der Direktor ist gehalten, der Regierung von jeder Plenarversammlung einen Sitzungsbericht zu schicken. Die Regierung darf einen Kommissar in die Plenarversammlungen schicken, der dort reden darf, wenn er das Wort ergreifen möchte. Ein ministère de tutelle ist darin nicht genannt, nur beschrieben, dass das Wirtschaftsministerium bei der Organisation der Wahlen für die Plenarversammlung hilft (die mit öffentlichen Geldern bezuschusst wird).

So gesehen, können Carlo Thelen und Michel Wurth guten Rechts über die finanzielle Lage der Handelskammer erzählen, was sie wollen. Um so wenig wie möglich zu sagen, berufen sie sich auf Artikel 6 des Gesetzes vom 26. Oktober 2010 portant réorganisation de la Chambre de Commerce, der besagt: „Les membres effectifs et suppléants de la Chambre de Commerce sont tous tenus au secret professionenel et doivent garder le silence envers les tiers sur tout ce qu’ils ont appris dans l’exercice de leurs fonctions.“ Tatsächlich haben Wurth und Thelen Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die Handelskammer von allen Berufskammern im Bezug auf die Finanzen die transparenteste ist. Denn die Landwirtschaftskammer, die Beamtenkammer, die Handwerkskammer und die Arbeitnehmerkammer geben in ihren Jahresberichten nicht einmal die wenigen Informationen preis, welche die Handelskammer liefert. Dabei investiert beispielsweise auch die Arbeitnehmerkammer gerade in Immobilien und baut sich einen neuen Prunkbau an der Rocade de Bonnevoie.

Die finanzielle Situation der Handelskammer ist aber nicht zuletzt auch deshalb ein Politikum, weil die Arbeitgeberverbände der Regierung nach dem Zukunftspak das Zugeständnis abrangen, die Arbeitgebermutualität mit Zuschüssen in Höhe von zehn Prozent ihrer Jahresausgaben zu versorgen. Wäre die tatsächliche finanzielle Situation der Handelskammer bekannt, könnte sich so mancher fragen, warum den Arbeitgebern noch Geld vom Staat zugesteckt wird. Immerhin war es der ehemalige Handelskammerdirektor Pierre Gramegna, der im Rahmen des Zukunftspaks entschied, der Handelskammer die direkten Zuschüsse durch das Budget des Wirtschaftsministeriums zu streichen. So sollte der Staat ab 2015 und bis nächstes Jahr insgesamt 3,8 Millionen Euro sparen. Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) wollte die Handelskammer und die Handwerkskammer auf diesem Weg zu deren Entsetzen zu einer Fusion ermutigen. Auch deshalb ist eine Diskussion über die Vermögensverhältnisse der Handelskammer delikat – weil die Handwerkskammer weitaus schlechter gestellt sein soll als die Handelskammer.

Die Sache ist dermaßen brisant, dass der Wirtschaftsminister trotz einer Land-Anfrage vor Monaten und Nachforschungen bei seinen Beamten vergangene Woche nicht abschließend sagen konnte, ob dem Ministerium eine vollständige Bilanz der Handelskammer vorliegt oder nicht. Eine weitere Anfrage, dazu endgültig Stellung zu beziehen, ließen Schneider und seine Beamten unbeantwortet. Die Meinungen darüber, wer Einblick in die vollständige, vom Wirtschaftsprüfer kontrollierte Bilanz hat, gehen offensichtlich auseinander. „Sie haben die Bilanz“, so Wurth über das Wirtschaftsministerium, „eine ganz dicke Bilanz und sie unterliegen auch Artikel 6.“

Eventuell ist der Minister nicht der einzige, der nicht vollkommen im Bilde ist. Denn ein gewähltes Mitglied erklärte dem Land, in der Plenarversammlung keine abgeschlossenen Bilanzen gesehen zu haben. Haushaltsvorschläge ja – für jedes Projekt werde eine neue Abteilung geschaffen, die danach nie mehr abgeschafft werde. Auf die Frage, ob es den dort vertretenen Bankdirektoren und Industriechefs nicht einfalle, danach zu fragen, kam die Antwort: „Warum denn? Es war ja immer genug Geld da.“ Ein anderes Mitglied wollte sich über Vorlage und Inhalt der Bilanzen nicht äußern, fand es allerdings „nicht normal“, dass in Zeiten, in denen Unternehmen und Banken immer mehr Informationen preisgeben müssen, die Handelskammer keine vollständige Bilanz veröffentlicht. Eine Bemerkung, die man durchaus auf die anderen Berufskammern ausweiten kann, die ebenfalls von Gesetzeswegen her ihren Mitgliedern obligatorische Beiträge abknöpfen, ohne Rechenschaft über deren Verwendung abzulegen.

Michèle Sinner
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