Wie die Physik Einzug hält in die Finanzwelt

Global Chaos Inc.

d'Lëtzebuerger Land vom 21.06.2013

Wenn von besonders fähigen Geld-Managern die Rede ist, fallen gewöhnlich Namen wie Warren Buffett oder George Soros. Jim Simons ist viel weniger bekannt, aber vielleicht sogar noch fähiger als seine beiden berühmten Kollegen. Vor 40 Jahren war der heute 75-Jährige noch Mathematiker an der State University of New York und entwickelte die Chern-Simons-Formen, die in so exotischen Bereichen der Physik wie der String-Theorie und der Quantenfeldtheorie benutzt werden. 1978 ging er in die Finanzindustrie und gründete später einen der erfolgreichsten Hedgefonds aller Zeiten. Sogar 2007, als es in der zweiten Jahreshälfte an der Wall Street zum Quant meltdown kam, in dem auch jene Hedgefonds, die als besonders „raffiniert“ galten, in kurzer Zeit Milliarden Dollar verloren, verzeichnete Simons’ Medallion Fund wesentlich höhere Erlöse als der Durchschnitt der Branche.

Unter anderem von Jim Simons und dessen Unternehmungen erzählt der US-amerikanische Physiker und Philosoph James Owen Weatherall in seinem Buch The Physics of Finance. Er versammelt dort Biografien von Mathematikern und Physikern, die es zwischen Ende des 19. Jahrhunderts bis um die Wende zum 21. Jahrhundert in die Finanzwelt zog. Aber nicht in erster Linie, um dort reich zu werden – wenngleich manche es später wurden. Hauptmotiv von Weatheralls Protagonisten war zunächst – und bei vielen blieb es – der Wunsch, zu ergründen, wie die Finanzmärkte sich verhalten, und ob sich daraus mathematische Modelle bauen lassen, um ihr Verhalten vorherzusagen.

The Physics of Finance ist aus aktuellem Anlass entstanden und seine Botschaft nicht zu übersehen: Die Finanzwelt brauche bessere mathematische Modelle und täte gut daran, sich von der theoretischen Expertise inspirieren zu lassen, die die moderne Physik über komplexe Vorgänge jeglicher Art gesammelt hat. Und ja: Finanzkrisen lassen sich vorhersagen.

Unter den von Weatherall Porträtierten ist beispielsweise der französische Geophysiker und Komplexitätsforscher Didier Sornette: In den Neunzigerjahren entwickelte er eine Methode, um festzustellen, wann „Mini-Erdstöße“ Vorhersagekraft für große, verheerende Erdbeben haben. Immer ist das nicht der Fall, und die Zusammenhänge, die dazu führen, ein System tatsächlich instabil werden zu lassen, sind kompliziert. Als Sornette 1997 seinen Ansatz auf die Wallstreet anzuwenden begann, sagte er anhand winziger Vorläufer-Ereignisse den Einbruch des Dow Jones Index vom 27. Oktober 1997 an der New Yorker Aktienbörse mit nur ein paar Tagen Abweichung voraus. Den Zusammenbruch des russischen Rubel 1998 und die Dotcom-Krise ein Jahr später prognostizierte er ebenfalls, und schließlich sogar den großen Knall vom Herbst 2008, in dem Lehman Brothers untergingen, mitsamt Timing. Allerdings hörten nicht viele Sornette zu. Weatherall erwähnt noch andere Physiker, die in den letzten zwei Jahrzehnten ein Interesse entwickelten, die Finanzmärkte mit neuartigen Modellen zu beschreiben, sich aber kaum Gehör zu verschaffen vermochten: Offenbar war das Interesse an neuen Modellen gering.

The Physics of Finance ist unterhaltsam geschrieben, nicht zu fachlich und eignet sich ohne weiteres als Bettlektüre. Dass Weatherall sehr viel von Menschen erzählt und eine Menge Details am Rande erwähnt – man erfährt zum Beispiel, dass es für die Gehälter US-amerikanischer Staatsbeamter einen automatischen Inflationsausgleich gibt –, erweist sich aber als umständlicher Ansatz: Eigentlich will das Buch zeigen, woher mathematische Modelle in der Finanzwelt kommen, welche Fortschritte es gab, und weshalb es gerade jetzt rumort und tatsächlich „mehr Physik“ sich anzukündigen scheint. Aber gerade darin bleibt The Physics of Finance zu oberflächlich.

Da kann es helfen, auch noch Mark Buchanans Forecast zu lesen, oder gleich nur diesen. Buchanan ist ebenfalls Physiker, und auch er berichtet, wie die Betrachtung von Chaos und Komplexität, von positiven Feedbacks und „Phasenräumen“, die seit Jahrzehnten zum Handwerkszeug der Physik gehört, Einzug hält in die Finanzwissenschaft. Doch das sei verbunden mit einem Kampf gegen die dominierende neoklassische Theorie, nach der jegliche Wirtschaftstätigkeit einem „allgemeinen Gleichgewicht“ entgegenstrebt. Hatten noch in den Dreißiger- und Vierzigerjahren Ökonomen wie der US-Amerikaner Irving Fisher Märkte als dynamische, potenziell instabile Gebilde beschrieben, setzten in den Jahrzehnten danach andere alles daran, solche Ansätze zu revidieren. Milton Friedman und die „Chicago School“ zeigten mit mathematischen Gleichungen, wie Recht Adam Smith mit der „invisible hand“ gehabt habe, und wie in perfekt effizienten Märkten perfekt rational handelnde Akteure Entscheidungen treffen, die sowohl ihnen selber einen optimalen Profit sichern als auch der Allgemeinheit. Denn agiert jeder als kühl kalkulierender homo economicus, sind alle Güter am Ende optimal bepreist und jede Abweichung davon kann den allgemeinen Wohlstand nur verringern.

Für Buchanan ist das eine „almost psychotic fantasy“, und er schreibt ziemlich unbarmherzig gegen Friedman an: Nicht, weil die Idee vom effizienten Markt gänzlich absurd wäre, sondern weil sie zum Dogma erhoben wurde. Und weil Friedman sogar so weit ging zu postulieren, um „important“ zu sein, müsse eine Theorie „false in its assumptions“ sein. Wenngleich Buchanan einmal erwähnt, wie gefährlich es eigentlich sei, durch Liberalisierungen dem Walten angeblich effizienter Märkte einen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge nach dem anderen zu überantworten, ist Forecast aber weder ein politisches Buch, noch entwickelt es eine Gegen-Ideologie zur neoklassischen Wirtschaftslehre.

Vielmehr zeigt Buchanan, wie, gedeckt vom Dogma eines „allgemeinen Gleichgewichts“ und gestützt auf eine Mathematik, die in Wirklichkeit auf einem Stand der Zwanzigerjahre verharrt sei und mehr verschleiere als zu erklären, sich ein ebenso gewichtiger wie prekärer Bereich entwickeln konnte wie der Derivatehandel mit Hedgefonds als besonderen Risikoträgern. Ein immer stärker wachsendes leveraging (Geld leihen, um mehr investieren zu können) mache den Markt zusätzlich potenziell instabil. In diesen hochkomplexen Zusammenhängen haben Physiker tatsächlich Muster ausgemacht, die etwa der Wetterentwicklung ebenso ähneln wie der Tektonik: So, wie Stürme und Hurrikans zwar extreme, aber ganz normale Vorgänge in der Atmosphäre sind, müsse man Börsenkrachs und spekulative Blasen für ganz normale Geschehnisse am Finanzmarkt ansehen. „Global Chaos Inc.“ nennt er die an einer Stelle im Buch.

Forecast ist eher keine Bettlektüre und kommt nicht ganz ohne Mathematik aus. Doch als früherer Redakteur des Wissenschaftsmagazins Nature und Autor mehrerer Bücher über Chaostheorie und komplexe Systeme kennt Buchanan seine Materie wie auch sein Handwerk gut genug, um bei der Wissenschaft zu bleiben und dennoch zu überraschen: Besonders spannend und erhellend zugleich ist Forecast gerade dann, wenn sein Autor vorführt, dass es doch einen Weg zum Verständnis der anhaltenden Finanzkrise gibt. Das ist keine kleine erzählerische Leistung.

Dass in der Zukunft bessere Modelle helfen mögen, einerseits Crashs vorherzusagen und andererseits sinnvolle Regulationsinstrumente zu finden, ist eine Hoffnung, die Buchanan mit Weatherall teilt. Wenngleich, wie er schreibt, sowohl die Marktsimulationsmodelle der US-amerikanischen Federal Reserve wie auch die der Europäischen Zentralbank nach wie vor auf der grundsätzlichen Annahme vom „allgemeinen Gleichgewicht“ beruhen, nach der es zum Beispiel spekulative Blasen gar nicht geben kann, weil der Markt sie ausreguliere – es sei denn, man versteht sie als extreme Ereignisse, die sich jeder Vorhersage entziehen. Immerhin aber kann Buchanan den damaligen EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet aus einer Ansprache vor der internationalen Central Banking Conference 2010 zitieren, in der Trichet einräumte, die Modelle der Zentralbank hätten „failed during the crisis“, und erklärte, „inspiration from other disciplines: physics, engineering, psychology, biology“ seien „very much welcome“.

Im Raum stehen bleibt nach der Lektüre von Physics of Finance wie der von Forecast die Frage: Was dann? Nämlich wenn naturwissenschaftliches Analyse- und Operationsbesteck tatsächlich breiten Einzug hält in die Finanzwissenschaft und das Tun und Lassen der Akteure auf den Finanzmärkten immer mehr beeinflusst. Denn dieser Prozess ist schon lange im Gange. Der Medallion Fund von Mathematik-Pionier Simons ist kein Einzelfall: Gerade die mit dem Spitznamen quants versehenen Hedgefonds mit den cleversten Investitionsstrategien und Hochfrequenz-Trading, bei dem Mikrosekunden zählen, beschäftigen zum Teil Heerscharen von Mathematikern und Physikern und dürften Marktmodelle betreiben, die schon lange nichts mehr zu haben mit „falschen Annahmen“ vom „allgemeinen Gleichgewicht“. Gut möglich, dass „mehr Physik“ alles noch verschlimmert.

James Owen Weatherall, The Physics of Finance. Short Books 2013, ISBN 978-1-78072-139-2
Peter Feist
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