LEITARTIKEL

Anders als Macron

d'Lëtzebuerger Land du 02.06.2023

Weil Wahlkampf herrscht, musste früher oder später die Rede auf die Renten kommen. Nicht von den Parteien, denn mit dem Thema lassen sich Wahlen verlieren. Den Anfang machte vor zehn Tagen die Handelskammer. Einer ihrer Ökonomen erklärte via paperjam.lu, „il faudra réformer les pensions durant la prochaine législature“. Daten von Eurostat über die Medianeinkommen zufolge, sei Luxemburg das einzige EU-Land, „où les résidents à la retraite ont des revenus supérieurs aux résidents qui travaillent“. Und laut OECD beziehe ein Luxemburger Rentner vom Renteneintritt bis zum Ableben ein „patrimoine pension“ von durchschnittlich 16,2 Arbeitsjahren, eine Rentnerin eines von 17,7 Jahren. In Frankreich seien es 11,2 Jahre für die Männer und 12,8 Jahre für die Frauen, in Belgien 7,6 beziehungsweise 8,4 Jahre. Die politische Schlussfolgerung müsse lauten, die Renten proportional zu den Beiträgen auf die Arbeitseinkommen zu senken. Graduell, da werde das kaum bemerkt. Die kleinen Renten hingegen gehörten aufgebessert.

Die Gegenrede von der Salariatskammer kam drei Tage später: „La réforme de retraites de 2012 finira-t-elle par coûter au moins 314 000 euros à un salarié moyen?“, überschrieb sie suggestiv eine „Eco-News“ und schob im Text nach, es könnten sogar 404 000 Euro sein. Nach der Reform durch die letzte CSV-LSAP-Regierung, die genau das tat, was der Ökonom von der Handelskammer empfiehlt: Seit 2013 sinken die Renten proportional zu den Beiträgen. Das geschieht graduell, erst 2052 wirkt es sich voll aus. Die kleinen Renten dagegen wurden aufgebessert.

Der interessierte Leser musste verstehen: Das Luxemburger Rentensystem ist ein Skandal. Schlimmer als im dekadenten Frankreich, ehe Macron kam. Oder er bevorzugt die Lesart der Gewerkschaften in der Salariatskammer, allen voran der OGBL: Schon die Reform von 2012 und die LSAP, die damals den federführenden Minister stellte, hat die Leute über den Tisch gezogen.

Natürlich sind die Rechenbeispiele konstruiert. Dass es bei der Handelskammer aussehen kann, als kämen Rentnerinnen besser weg als Rentner, liegt daran, dass Frauen in ihrer Erwerbskarriere, statistisch betrachtet, noch immer weniger Einkommen beziehen und so auch weniger Rentenrechte erwerben. Dass andererseits die Rentenreform von 2012 zu solchen Einbußen führen kann, wie die Salariatskammer schreibt, ergibt sich, weil sie unterstellt, wer mit 60 in Rente geht, lebe noch ein Vierteljahrhundert. Wohlgemerkt, Renteneintritt mit 60, nicht mit 65.

Instruktiv sind solche Konstruktionen trotzdem. Nicht unbedingt, weil sie andeuten, welcher Krach bevorsteht, falls die nächste Regierung ans Rentensystem rührt. Damit es im Fall der Fälle keinen Krach gibt, lässt die aktuelle Regierung den Wirtschafts- und Sozialrat über den jüngsten Rentenbericht der Generalinspektion der Sozialversicherung diskutieren. Dem Vernehmen nach entspricht das Gesprächsklima im WSR nicht den Verlautbarungen von Handelskammer und Salariatskammer.

Die Konstruktionen sind instruktiv, weil sie zu der Frage hinführen, wie gerecht das Luxemburger Rentensystem jetzt schon ist. Wer es zum Beispiel unerhört findet, dass die Salariatskammer einen Renteneintritt mit 60 zugrundelegt, sollte bedenken, dass Geringverdiener statistisch eine geringere Lebenserwartung haben. Zwar gibt es dazu in Luxemburg keine Daten, aber im Ausland. Sodass es nicht nur angebracht wäre, kleine Renten aufzubessern, sondern Menschen mit kleinen Einkommen früher in die Rente zu lassen als Besserverdiener. Auch weist Luxemburg in EU-Statistiken nach eine vergleichsweise geringe „Altersarmut“ auf. Was sicher nicht nur an der Höhe der Renten liegt, sondern auch am hohen Anteil der Eigenheimbesitzer an den Rentner/innen. Dem politisch Rechnung zu tragen, wäre schwierig, weil zu Vermögen hierzulande keine Transparenz herrscht, aber nicht abwegig. Und wer von 25 Jahren in Rente spricht, müsste bedenken, dass die letzten Lebensjahre davon wahrscheinlich in Pflegebedürftigkeit verbracht werden. Was heißt das für die gesamte Sozialversicherung? Eine Rentenreform müsste all diese Aspekte zusammendenken. Damit sie nicht rein buchhalterisch angelegt ist, so wie die von Emmanuel Macron, auf die hin es Krach gab.

Peter Feist
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