Am Flurende des siebten Stockwerks im Building ist ein Fenster. Man kann es nicht öffnen, der dahinter angebrachte Balkon ist baufällig. Neben dem Fenster befindet sich das Büro von Yves De Smet. Als pensionierter Psychiater durchforstet er das Archiv des Ettelbrücker Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique (CHNP). Mehrere Archiv-Bände umfassen Patientenakten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. „Nur die Eckdaten stehen hier drin. Wann jemand eingewiesen wurde, beispielsweise. Viel mehr nicht“, erklärt der Arzt. Das liegt daran, dass um die Jahrhundertwende ein Aliéniste (so der damalige luxemburgische Fachterminus für Psychiater) auf 400 Patient/innen kam. „Der Arzt kümmerte sich vor allem um die Verwaltung des Hauses – die Finanzen, den Küchenplan – da blieb kaum Zeit für Patientenbesuche.“ Betreut wurden die Patient/innen von medizinisch kaum ausgebildeten Krankenschwestern und Wächtern. Überrascht hat Yves De Smet während seiner Recherche, dass der Facharzt Adolphe Buffet, Direktor von 1883 bis 1904, sich sehr um das Wohl der Patienten gesorgt habe und deshalb dem Gesundheitsminister Briefe schrieb, um Fördergelder einzutreiben. Den Gerüchten zufolge seien die Leute nämlich in Ettelbrück eingesperrt und geschlagen worden. Aber das stimme nicht, meint De Smet: „Sie hatten Ausgang und konnten an Beschäftigungsateliers teilnehmen, sie töpferten und flochten Körbe.“
Wir laufen an der gegenüber dem Building gelegenen Orangerie vorbei; eine offene Rehabilitationsabteilung mit 20 Betten für erwachsene Patienten, die von Psychosen betroffen sind. Eine rauchende Frau wippt unablässig mit dem Oberkörper nach vorne und hinten. „Sich wiederholende Bewegungen sind typisch für Psychotiker.“ Ohne Genehmigung des Direktors ist es uns nicht erlaubt, mit ihr zu reden. „Fast nie erzählen Psychotiker in der Therapiesitzung über die Stimmen, die sie hören“, sagt De Smet. Oder besser: Gehört haben. Denn mit dem Beginn der medikamentösen Therapie verstummen sie. „Manchmal erzählen sie auch von technologischen Geräten, die sie beeinträchtigen würden, wie Satelliten oder implantierte Mikrochips. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem elektromagnetische Strahlen. In früheren Epochen Dämonen und Hexen.“ Zumeist aber würden sie von einem diffusen „man“ sprechen, der sie bedrohe, ohne konkreter zu werden.
Eine regelrechte Revolution hat die Psychiatrie in den 1960-er-Jahren erfasst: Die ersten Neuroleptika kamen auf den Markt. „Vorher waren die Patienten aufgewühlt, oft wahnhaft, und es war fast unmöglich, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“ Deshalb ist die stationäre Patientenzahl stetig geschrumpft: „Als ich 1981 mein Praktikum absolvierte, zählte Ettelbrück 1 200 Patienten. Als ich zwölf Jahre später als Arzt ans CHNP wechselte, war es die Hälfte. Heute sind es noch um die 200.“ Laut dem Jahresbericht von 2023 wurden 462 Personen aufgenommen und 446 entlassen, so dass 220 Patient/innen täglich auf dem Gelände waren. Die, die bleiben würden, so De Smet, seien vor allem Personen ohne soziales Umfeld und ökonomische Mittel oder psychisch kranke Straftäter/innen, die in Ettelbrück interniert werden. Aus den Zahlen der Klinik geht hervor, dass fast doppelt so viele Männer wie Frauen hier in Beahndlung sind. Wir laufen an der forensischen Jugendabteilung vorbei. Eine Wiese ist mit einem sechs Meter hohen Gitter umzäunt. „Ich weiß nicht, ob das gut ist für die Rehabilitationsbestrebungen“, kommentiert De Smet.
Dass sich die Zahl an stationär Behandelten verringerte, lag auch an einem gesellschaftlichen Wandel: „Die Luxemburger zeigten sich offen, psychisch Erkrankte ihren in Alltag aufzunehmen“, sagt De Smet. 1987 gründete er die Initiative „Liewen Dobaußen“, bei der es darum geht, betreute Wohneinheiten in den umliegenden Dörfern einzurichten. Die Antipsychiatrie-Bewegung, die seit den 1960-er-Jahren Missstände in psychiatrischen Kliniken anprangerte, habe ebenfalls zur Etablierung von Betreuungsstrukturen außerhalb von Kliniken beigetragen. „Außerdem ist es heute üblich, dass Menschen auf der Straße scheinbar Selbstgespräche führen – gut sie haben zwar Kopfhörer an – trotzdem ist das Bild einer Person, die ohne unmittelbares Gegenüber spricht, nicht ungewöhnlich“. Aber ganz so einfach sei es nicht. „Denn zeitgleich hat die Antipsychiatrie-Bewegung ein schlechtes Image von Medikamenten verbreitet. Natürlich, die ersten Neuroleptika wirkten, als hätte man jemandem mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen. Aber bei den neueren Mitteln überwiegen die positiven Effekte deutlich“, so De Smet. Und auch die Populärkultur habe ein falsches Bild vermittelt. In Einer flog über das Kuckucksnest (1975) wird die Geschichte von einem Neuankömmling erzählt, der versucht sich gegen eine repressive Ordnung aufzulehnen. Das Lexikon des internationalen Films nennt ihn „überzeugend in der Milieuzeichnung“. „Ich habe in 40 Jahren Psychiatrie noch nie einen Patienten wie im Film gesehen, und schon gar nicht wie in Shining“, urteilt De Smet.
Der Arzt Yves De Smet spart im Gespräch konfligierende Sichtweisen auf die Psychiatrie nahezu aus. Dabei kochte intern auch immer wieder Kritik hoch. Im July 1976 adressierten sich Pfleger in einem Brief, der im Luxemburger Wort abgedruckt wurde, an die breitere Öffentlichkeit: „Salus Aegrorum Suprema Lex, das Heil der Kranken ist höchstes Gesetz, steht über dem Portal am Verwaltungsgebäude zu lesen. Ein alter Spruch, dem heute kaum noch Bedeutung beizumessen ist, denn wie sieht die raue Wirklichkeit aus?“ Manche Patient/innen lägen „oft über 8 Stunden in ihren eigenen Exkrementen“ und könnten nicht trocken gelegt werden, „denn Bettwäsche ist Mangelware“. Ärzte würden Pfleger „militärisch, preussisch“ über Behandlungsvorgänge informieren – wenn überhaupt. Manche Stationen hätten schon mal zehn Tage ohne Arzt auskommen müssen. Und „Neuaufnahmen werden kaum, flüchtig, oder nicht untersucht“. Im September stellen sich weitere Pfleger in einem Wort-Beitrag hinter diesen Bericht. Auf drei Ärzte kämen 1 000 Kranke. Und „junge, ausgebildete Hilfspfleger“ würden – kaum hätten sie ihren Vertrag unterschrieben – wieder kündigen.
Auch das Land griff die Missstände im Sommer 1976 auf. Aus einem Beitrag von Mario Hirsch geht hervor, dass sich kurze Zeit zuvor drei Personen aus der Anstalt das Leben nahmen. Hirsch urteilt: „Der Alltag in Ettelbrück ist erschreckend.“ Jedes Detail, jede Geste sei reglementiert – der Drang, jede potenzielle Flucht zu verhindern, ist groß. „Ihre Kontakte zur Außenwelt werden streng kontrolliert. Ein therapeutisches Konzept ist praktisch nicht vorhanden.“ In dieser in sich geschlossenen Welt seien „die Kranken dazu verurteilt, ihre Obsessionen und Misserfolge wieder und wieder durchzukauen. Sie sind isoliert, Nichts bereitet sie darauf vor, sich wieder an ein normales Leben zu gewöhnen.“ Am Tag nach der Veröffentlichung von Hirschs Beitrag verteidigte wiederum ein Teil des Pflegepersonals die Institution im Wort. Große Fortschritte hätten sich vollzogen, seit vier Jahren würden „Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und Pfleger“ kooperieren und das Angebot der „psychologischen Therapie“ würde „mehr denn je“ die sozialen Hintergründe der Patienten berücksichtigen. DP-Gesundheitsminister Emil Krieps meldete sich erst zwei Monate nach Beginn der Kontroverse im Parlament zu Wort, und suchte die Ursache der Probleme im Personalmangel – „junge Fachärzte schätzen die Arbeitsbedingungen und Entlohnung im Privatsektor“ – wie könne man so konkurrenzfähig sein.
Die Angst vor psychisch Erkrankten und ihre damit einhergehende Exterritorialisierung fand vor allem im 19. Jahrhundert statt. Im Vorwort von De Smets Publikation Histoire de la Psychiatrie en Luxembourg schreibt der Historiker Benoît Majerus: „Placer l‘Hospice à Ettelbruck dans une ancienne caserne, séparée de la ville par une rivière, l‘Alzette, fait clairement ressortir les généalogies architecturales et géographiques de cet asile, symboles des peurs que la folie inspire et des effets de stigmatisation qu‘elle engendre.“ Wie damals in Europa üblich, lag das Hospiz getrennt vom Rest der Kleinstadt. Vom Blick der Öffentlichkeit entzogen, wurden die Bewohner/innen der Anstalt in der Anfangszeit als staatliches Verwaltungsproblem betrachtet. Sein erster Direktor war ein Steuerbeamter. Als das Krankenhaus 1855 eröffnet wurde, kamen eigentlich nicht zuvorderst psychisch Erkrankte nach Ettelbrück, sondern Vagabunden, Bettler und Waisenkinder, die krank oder behindert waren und deren Aufenthalt um das Bettelverbot herum reglementiert wurde. Wie De Smet in seinem Buch auflistet, werden deren Biografien auf ein paar Sätze festgezurrt: „(n°185/44), orpheline, sans état, célibataire, 33 ans, admise le 02/09/1857, de conduite passable, évadée le 07/11/1857, réadmise le 13/11/1857, réclamée par sa Commune, réadmise le 15/10/1858, de mauvaise conduite“. Die meisten wurden aus dem Dépôt de Mendicité aus dem Grund überwiesen, das sich in dem Gebäude des heutigen Naturmuseums befand. 1893 wurde der Standort Ettelbrück zu einer rein psychiatrischen Institution.
Heuten arbeiten im CHNP 19 Ärzte und 531 Pflerger/innen, mit dem technischen und administrativen Personal kommt man auf 829 Personen. Warum trifft man auf so viel Personal, wenn die Zahl an psychiatrisch Betreuten bei um die 220 liegt? 2005 wurde das CHNP in drei Einheiten umgegliedert, neben der psychiatrischen Rehaklinik, umfasst es zudem ein Alten- und Pflegeheim sowie ein Zentrum für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die Ateliers und Wohneinheiten für mental Beeinträchtigte liegen in einem Park nahe am achtstöckigen Building. Die aus massivem Stein gebauten Villas wurden um die Jahrhundertwende von dem Merziger Architekten und Aquarellmaler Sosthène Weis entworfen. Wer sich unter Ladenbesitzern und Passanten umhört, spürt eine gewisse Gewöhnung an die Patienten im Stadtbild – als Raucher sind sie Kunden im Kiosk, im LëtzeBurger Restaurant gern gesehene Gäste. Die Dezentralisierung und die damit einhergehende Eröffnung von Wohngemeinschaften außerhalb von Ettelbrück hat daran nichts verändert: „Psychisch Erkrankte haben Schwierigkeiten sich an Lebenseinschnitte zu gewöhnen. Viele, die den Ettelbrücker Standort verlassen haben, nehmen morgens den Bus und kommen hierhin zurück. Für sie ist Ettelbruck ihr Wohnort, auch wenn sie die Nacht woanders verbringen.“
Der Psychiater Yves De Smet wohnt keinen Kilometer vom CHNP entfernt. Im Inneren seines Hauses, das während der letzten Jahrhundertwende gebaut wurde, vermischen sich Jugendstilmöbel mit Statuen aus Fernost und Le Chat Comics von dem in Brüssel geborenen Philippe Geluck. Auch Yves De Smet wurde in Brüssel geboren, studierte Mitte der 1970-er in Lüttich, Louvain-la-Neuve und Paris. Mittlerweile hat er die luxemburgische Nationalität angenommen und bringt sich in Lokalvereine ein, wie dem Ettelbrücker Theaterkollektiv Rido-Op und dem Victor-Hugo-Haus in Vianden. Er hat vier Kinder, eine Tochter lebt derzeit in Frankfurt und arbeitet im Bahnhofsviertel mit Obdachlosen und Drogenabhängigen. In seiner Bibliothek stehen Fachbücher neben literarischen Werken und Sammelbändern. Unter anderem Les fous voyageurs (2001) vom Philosophen Ian Hacking, das sich wie de Smets Buch auf das Ende des 19. Jahrhunderts konzentriert. Damals begann Frankreich Landstreicher, Sans-Papiers und andere von Stadt zu Stadt Wandernde zu pathologisieren. Der Philosoph Hacking greift die Biografie von Albert auf, einem Angestellten einer Gasgesellschaft in Bordeaux, der manchmal 60 Kilometer am Tag zurücklegte und Gedächtnisstörungen aufwies. „Ziellose, zwanghafte Reisen“ diagnostizierte sein Arzt Philippe Tissié, der den Fall 1887 in seinem Buch Les aliénés voyageurs beschreibt. Daraufhin werden während zwei Dekaden in Europa und Russland „Ausreißer“ diagnostiziert. Heute hat sich diese Kategorie aufgelöst. Hacking fragt deshalb nach den soziopolitischen Dimensionen, die Krankheitskategorien hervorbringen. „In gewisser Weise lässt sich das Motiv, des zu misstrauendem Umherwandernden auch schon früher auffinden, wie in der Legende des Ewigen Juden“, meint De Smet. Die antisemitische Erzählung des „Ewigen Juden“, als einem aufgrund von Ketzerei zum Umherwandern Verdammten, ist seit dem 17. Jahrhundert in Europa verbreitet. Seit Dezember macht der Topos der Umherziehenden, von denen Gefahr ausgehe, in einer neuen Form die Runde. Nun liegt der Fokus auf Bettlerbanden.
Auf De Smets Wohnzimmertisch liegt ebenfalls Le Génie et la Folie (2007) von dem Psychiater und Anthropologen Philippe Brenot. Idealisiert man Leidensdruck nicht, indem man ihn in die Nähe von Genialität rückt? „Es ist schon so, dass man bestimmte Muster erkennen kann, vor allem unter Literaten sind bipolare Störungen verbreitet – Rimbaud, Hölderlin, Goethe, Artaud – sie alle hatten ihre Macken.“ Dem russischen Mathematiker und Nobelpreisträger Grigorij Perelman würde eine Form von hochfunktionalem Autismus nachgesagt. Als Einzelgänger mit langen Haaren und Fingernägeln lebt er zurückgezogen bei seiner Mutter, empfindet Alltägliches als Zumutung, konnte aber im Jahr 2002 ein mathematisches Millenium-Problem lösen. Der Brite Daniel Tammet, der eine Autismus-Diagnose erhalten hat, lernte innerhalb von fünf Stunden über 22 000 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi auswendig. „Auch bei autoritären Politikern, kann man auf Eigenheiten stoßen. Viele sind ohne Vater oder unter abwesenden Vätern aufgewachsen.“ Letztlich aber sei der Leidensdruck entscheidend für die Frage, ob eine psychische Krankheit vorliegt. Diagnosen geben dann Orientierung bei der Behandlung, das sei ihr Hauptzweck. Nur im Setting einer Therapie spielen sie eine Rolle, denn mit ihnen lassen sich keine klar identifizierbaren Phänomene wie in naturwissenschaftlichen Experimenten feststellen. Yves De Smet pflegt für den Kontext der Psychiatrie zu sagen: „Il n’y a pas de maladies, seulement des malades.“