Theater

Kleines Arschloch

Nickel Bösenberg, Pitt Simon et Marly Marques
Photo: Tété Queiroga / Kasemattentheater
d'Lëtzebuerger Land du 13.10.2017

Modernisierungsverlierer. Wutbürger. Heteronormalität. Der deutsche Feuilleton erfindet ständig solch wunderbare Wörter, um die immer unerträglichere Banalisierung des Bösen in der urgemütlichen guten Stube der AfD-Wohnungen zu beschreiben. Das Narrativ dieser Banalisierung erzählt von diesen zurückgebliebenen Mittelschichten, ganz normale Deutsche, die überzeugt sind, „immer alles richtig“ gemacht zu haben, und trotzdem sitzen gelassen werden, ihren Job verlieren, danach ihre Wohnung in einem Viertel, in dem sie sich „überfremdet“ fühlen... Sibylle Berg hat einen Riecher für solch ganz normalen Arschlöcher, die sich gegen den dominierenden Gutmenschensprech wehren wollen, die finden, das müsse „man doch noch sagen dürfen“. Sie beschreibt sie in ihrer wöchentlichen Kolumne „Fragen Sie Frau Sibylle“ im Spiegel, in ihren Büchern und ja, besonders auch in ihren Theaterstücken. Anne Simon inszeniert derzeit im Kasemattentheater ihren knappen, schnellen Text Viel gut essen, uraufgeführt 2014 von Rafael Sanchez in Köln.

„Ein Mann oder viele“ könnten den Text vortragen, schreibt Berg in ihren Regieanweisungen. Anne
Simon entscheidet sich für zwei Männer, Pitt
Simon und Nickel Bösenberg, in der Rolle des Alter Ego oder des klassischen Chores, sowie Sängerin Marly Marques, als Erinnerung und Fantasmus der Frau, als Verkörperung des Anderen auch. Er, der Mann in der Hauptrolle, hat keinen Namen aber ein ganz normales Leben: einen Job als IT-Experte, eine Frau, die er liebt und einen jugendlichen Sohn, eine neue Einbauküche in einer Wohnung, die er seit 17 Jahren mietet. „Ich kann von mir behaupten, alles richtig gemacht zu haben... Ich habe nie betrogen, kaum gelogen, bin nie fremdgegangen“. Doch seine Welt zerfällt, ist schon zerfallen: Die Frau ist weg, der Sohn wollte so gar kein Macho sondern Balletttänzer werden, die Arbeit ist futsch und die Wohnung gekündigt.

Also kocht er. Jeden Abend kocht er Michelin-würdige Gerichte, in der Hoffnung, seine Frau und sein Sohn kämen, einfach so, eines Abends wieder nach Hause. Die Trostlosigkeit dieses Wartens erinnert an das der Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg jeden Abend auf die Rückkehr der Söhne von der Front warteten. Auf der Bühne riecht es nach Lauch, und wenn er sich in den Eifer redet, wenn er ausflippt, fliegen auch mal getrocknete Chilis, Kapern oder geraspeltes Gemüse herum (nicht in die erste Reihe setzen!). Denn heute ist er „auf der B-Seite
[s]eines Lebens“ angekommen. Nicht seine Schuld. Er hat doch alles richtig gemacht, von seinem ersten Onanieren bei seinen Eltern – „das sexuelle Werden war eine Enttäuschung“ – bis zum Job, in dem er von einer Beförderung zum Abteilungsleiter träumte, doch in Wirklichkeit kurzerhand von Frau Hüdüczü gefeuert wird. Frau und Ausländerin – doppelte Quote, ungerecht, weiß er gleich.

Also hasst er. Inbrünstig. Jeden und alles. Die Kunden der Bioläden, die Russen und die Juden (die sowieso immer mehr Geld haben als „wir Deutschen“), die Hipster, die als „Social-media-Experten“ mit Bart und Laptop in coolen Bars rumhängen, die Ausländer die draußen Lärm machen, die Schwulen und Lesben sowieso. Pitt Simon ist perfekt als Otto-Normalverbraucher, mit goldumrandeter Busfahrerbrille, gepflegtem Bart und unauffälliger blauer Kleidung. Er versucht, die Contenance zu behalten, den Alltag zu wahren, gediegen zu leben. Doch sein Alter Ego, Nickel Bösenberg, dreht durch – total. Er gibt alle Abscheulichkeiten von sich, die man sonst so in Internetforen liest, gegen Europa, den Euro, die Bürokraten, die Homosexuellen... Manchmal wird einem schon übel dabei. Bösenberg dreht auf, spielt den Clown, setzt auf Mimik, Körpersprache und Überraschungseffekte (und übertreibt manchmal ganz schön).

Wie immer arbeitet Anne Simon mit Rhythmus, gibt einen schnellen Gang vor, der immer kurzatmiger wird (Sibylle Bergs Hauptfigur erinnert nicht nur zufällig an Guy Helmingers Benoît Pleimer in Performance, den Anne Simon letzte Saison inszenierte). Und während sie spielen und kochen und hassen, bauen die Schauspieler eine Mauer um sich auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Anouk Schiltz hat ein Bühnenbild aus riesigen Legosteinen vorgesehen, die nicht nur zufällig an die Betonklötze erinnern, die in europäischen Städten vor Selbstmordattentaten schützen sollen. Und nach und nach werden die Steine zu einer Mauer. Dazu Joey Tempests Welthit The final countdown (Europe), sein Lieblingslied. Es erschien 1986.

Viel gut essen von Sibylle Berg, inszeniert von Anne Simon; Bühne & Kostüme: Anouk Schiltz; mit Nickel Bösenberg, Marly Marques und Pitt Simon; weitere Vorführungen heute Abend, 13. Oktober, am 14. und 16. im Kasemattentheater in Bonneweg, danach im Kulturhaus Niederanven und im Escher Theater; www.kasemattentheater.lu.

josée hansen
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