Viereinhalb Sternchen

Das Bild zeigt mehrere, ältere Touristen auf der Place d’Armes mit ihrem Stadtführer, die alle in eine Richtung zeigen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 27.07.2018

Seit fast zwei Wochen sind Ferien und deswegen soll an dieser Stelle Viviane Reding (CSV), ehemalige EU-Kommissarin, großer Dank ausgesprochen werden, die im Alleingang die europäische Telekommunikationsbranche besiegt und das Roaming eigenhändig abgeschafft hat. Nicht nur weil es seither möglich ist, im Urlaub mental in der Balance zu bleiben, Licht und Leichtigkeit an südlichen Stränden auszugleichen, indem die düstere Mord-und-Totschlag-Stimmung eines Schwedenkrimis via Netflix auf der Sonnenliege gestreamt werden kann. Oder weil es seither unmöglich ist, auch auf dem entlegensten Strand oder Bergkamm für den Arbeitgeber unerreichbar zu sein und Arbeits-E-Mails zu ignorieren. Sondern weil es seither wesentlich leichter geworden ist, das eigene Touristendasein zu verheimlichen. Und seien wir mal ehrlich, wer will beim Urlaub in einer Metropole schon zugeben, dass er oder sie sich nicht auskennt? Dass er keinen blassen Schimmer hat, in welche Richtung er an der nächsten Kreuzung abbiegen muss, um zum In-Restaurant zu gelangen, zur hippen Bar, oder dem minimalistischen Kleiderladen, dessen Ware zuhause Raritätswert hat?

Früher hätte man in solchen Situationen verunsichert einen Stadtplan hervorgeholt, oder schlimmer noch, einen Touristenführer, auf den man sich überhaupt erst hätte verlassen müssen, um in Millionenauflage gedruckte „Insidertipps“ zu erhalten, und sich dadurch sofort als Outsider im Szeneviertel zu erkennen gegeben. Das ist, Viviane sei Dank, heute nicht mehr notwendig. Schließlich verfügt seit vergangenem Sommer jeder über ausreichend mobile Datenkapazität, um die eigene Position und die GPS-Koordinaten in Echtzeit auf Google Maps zu verfolgen und sich diskret vom Telefon zum Ziel lotsen zu lassen. Dabei unterscheidet man sich rein äußerlich und im Verhalten überhaupt nicht mehr von den Ortsansässigen, die auch alle auf ihr Smartphone schauen.

Mit ein wenig Übung bleibt die aufsteigende Panik, trotz GPS nie wieder zurück ins Hotel zu finden, äußerlich unbemerkbar. Wer den Blick auf den Bildschirm konzentriert und mit lässiger Miene vorgibt, Textnachrichten zu verarbeiten, um in Wirklichkeit nervös unauffindbare Adressen ins GPS-System zu tippen, kriegt außerdem garantiert nichts von der fremden Umgebung mit, für die er mehrere Flugstunden in Kauf genommen hat.

Überhaupt bewahrt das Roaming-freie Smartphone mit seinen vielen Anwendungen Urlauber vor spontanem Verhalten, vor ziellosem Umherschlendern. Denn bei aufkommendem Hungergefühl beispielsweise lässt man sich nicht länger von appetitlichem Geruch der Pasta-Soße anlocken, oder von einer einladenden Terrasse anziehen, an der man gerade vorbeispaziert ist. Schließlich lässt sich, dank Viviane Reding und Geolokalisierungsdiensten auf dem Handy, prüfen, ob es im Umkreis von zwei Kilometern nicht vielleicht doch eine noch schönere Terrasse gibt, als die, vor der man gerade steht.

Mittels moderner Technik und dem Engagement tausender Internetnutzer, die eine Bewertung hinterlassen haben, kann man genauestens ermitteln, wo das Essen und die Bedienung authentischer, der Service besser und das stille Örtchen sauberer sind, und wer würde sich dabei nicht lieber auf das Urteil von völlig Fremden als auf die eigenen Sinne und das knurrende Bauchgefühl verlassen?

Der Einsatz von moderner Technik erfolgt nie ohne Restrisiko: Beim Abklären des Angebots und dem Abwägen der Möglichkeiten vergeht gut und gerne eine halbe Stunde. In der Zwischenzeit ist das Hungergefühl so akut, dass alle, die am perfekt entspannten Dolce-Vita-Urlaubsessen teilnehmen sollen, mindestens so grantig sind, als wenn sie hätten selbst kochen müssen.

Steht das Essen auf dem Tisch, stellt sich möglicherweise heraus, dass das eigene Verständnis von „authentisch“ oder „top notch“, sich doch stark von dem von Sandra B., 23, UK, unterscheidet, die dem Lokal in ihrer Rezension viereinhalb Sterne gegeben hatte, und auch von dem von Gerhard S., 73, Hannover, immerhin vier Sterne. Offensichtlich haben britische Studentinnen und deutsche Rentner eine andere Vorstellung von einem guten Weinangebot oder einer richtigen Pizza.

Die Kunst, erfolgreich durch Kundenrezensionen zu navigieren, um solche Enttäuschungen zu vermeiden, besteht im Wesentlichen darin, zwischen hunderten Bewertungen die zu identifizieren, deren Verfasser/in der gleichen sozio-ökonomischen Schicht entstammt, ein ähnliches Bildungsniveau sowie die gleichen kulturellen Referenzen hat wie man selbst. Es kann auch nicht schaden, wenn er oder sie die gleichen Hobbys pflegt (mögliche Rückschlüsse ergeben sich beispielsweise aus den Profilfotos der Kommentatoren, wo Pferdenarren, Fallschirmspringer, Sportangler, angehende Unterwäschemodels und Star-Wars-Fans meist ihr wahres Ich offenbaren). Findet der oder die das Restaurant super, kann man sich darauf verlassen, dass es einem selbst ebenfalls schmeckt beziehungsweise einem der Rahmen gefällt.

Diese Methode kann auch jenen helfen, die schon vor der Reise auf Kundenbewertungen zurückgreifen, um sich für ein Hotel oder eine Ferienwohnung zu entscheiden. Lässt sich auch auf der zwanzigsten Kommentarseite kein digitaler Doppelgänger finden, sollte man alternativ versuchen, sich die User in ihrem jeweiligen Kontext vorzustellen, um ihre Bewertungen einzuschätzen. Machen der Rentner und die junge Rucksacktouristin beispielsweise widersprüchliche Aussagen dazu, ob die Hotelwände hellhörig sind oder nicht, sollte man sich fragen, ob das damit zusammenhängt, dass die Zwischenwände in Großbritannien aus Sperrholz sind oder Gerhard möglicherweise vergessen hat, sein Hörgerät abzuschalten und keine Kinder mag. Ebenso kann man sich fragen, ob das Frühstücksbuffet eventuell doch üppig genug ist, auch wenn Li aus Shanghai, 45 Jahre, es minderwertig findet, weil er kein scharfes Bouillon vorfand. Im Zweifelsfall könnte man die Übernachtung auch ohne Frühstück buchen und vor Ort morgens das Handy rausholen, um zu sehen, welche gemütlichen Cafés es in der Umgebung gibt, die ein gutes Frühstück bieten, wie lange man braucht, um hinzulaufen, ob sie schon geöffnet haben, ob es sich angesichts der paar hundert Kundenbewertungen dabei um einen größeren Geheimtipp handelt, als ihn der Reiseführer parat hat, ...

Michèle Sinner
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