Umgeben von wohltuender Freundlichkeit

Lesbos-Tourist

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2016

„Sie werden garantiert keinen Flüchtling sehen,“ verspricht die Sprecherin im Transferbus. „Eine Schweizer Firma hat sogar den Meeresboden gereinigt.“ Es regnet ein bisschen, die Inselhauptstadt Mitilini ist menschenleer, als sei vor kurzem eine Bombe explodiert, die alles organische Leben ausradiert hat. Häuser in graubraunem Naturstein, ein Sammelsurium von Stilen und Stillosigkeiten, draußen ist es naturtrüb. Wir fahren quer über die Insel im Dornröschenschlaf, irgendwo ein paar katatonische Flamingos, ein Wald ist versteinert. Immer wieder leere Schaufenster, triste Spielplätze auf Beton. Wo sind die strahlend weiß-blauen Häuser von den Plakaten?

Immer wieder tröpfelt ein Grüppchen in das unwirtliche Draußen, ein grauer Strand, verblichenes Gras, ein in Nebel gehülltes Hotel. „Vermeiden Sie die Umgebung von Moria“, wird uns mit auf die auf den Weg gegeben, „das muss man sich nicht unbedingt anschauen.“ In Molyvos werden wir ausgespuckt, als Letzte. Abrakadabra stellt sich alles ein wie bestellt, das Städtchen, der Hafen, die Burg auf dem Berg. Ein Meer zu Füßen. Und vor dem Fenster, nicht mal bestellt.

Der Tourismus ist nach den Unruhen im Flüchtlingslager Moria weiter eingebrochen. Flüge aus Deutschland wurden abgesagt, das Hotel ist von Holländer_innen und ein paar Engländer_innen belegt, anscheinend sind sie wagemutiger. Ich bin Kriegs- oder Krisengewinnlerin, Lesbos ist ein Schnäppchen. Ich bin hier als Touristin. Nicht, um Leid zu dokumentieren, ich will das, was alle hier wollen: Meer und Sonne, Tzatziki, Sirtaki und Leichtes, von mir aus auch Seichtes.

Eine säugende Katze liegt vor dem Hoteleingang. Hotelgäste umstehen sie ehrfürchtig, ergriffen. Der selbstverständlichste Akt als etwas Exotisches, die Intimität als Performance. Die Katze weiß, was ihr Publikum erwartet. Unbeobachtet gebärdet sie sich wie ihre Kolleginnen, alles Ein-Kind-Mütter à la China, als genervte Rabenmutter, wehrt das nach einer Zitze schnappende Katzenkid mit unwirschen Tritten ab.

Molyvos, Lhasa, auf und um dem Bergrücken herum geschichtete Bauklötze. Im versperrten Innenhof der klotzig-klobigen Burg, sicher haben Zyklopen diese Quader herauf gewuchtet, meckern Ziegen, ein paar Greise geistern im Dunkeln herum. Unterhalb der Burg winkt eine alte Frau in Schwarz, endlich eine alte Frau in Schwarz, auf einer Bank vor einem Steinhäuschen Kindern hinterher. Kinder, Fremdkörper. Warum sind sie nicht in den Gassen wie im Süden in meinem Kopf? Es gibt keine mehr hier, klärt uns eine Einheimische auf, Kinder kosten Zeit und Geld.

Lesbos, Insel der Olivenbäume, wirtschaftlicher Rückhalt in Krisenzeiten. Was ist irdischer, stämmiger als der Olivenbaum? Eine Malerin malt Olivenbaumporträts. Jeder Olivenbaum ist auf seinem Trip, in einem andern Drama, einem andern Karma gefangen, der Gang durch den Olivenhain wird zum Gang durch eine Gespenstergalerie. Auf einem der über dem Hafen schwebenden Balkone griechischen Kaffee trinken, der bisher immer türkischer Kaffee war. Jenseits des grau verschleierten Meeres die Türkei. Ein Katzensprung.

Im düstergelben Café-Licht expressionistischer Gemälde der Local Lonely Cowboy. In seinem schwarzen, gebügelten, in die angeklebte schwarze Hose gestopften Hemd, mit einer Brillantine-Packung auf dem gestriegelten schwarzen Haar ist er einem Kinoplakat der Sechziger entstiegen, um hier abends die Bühne zu betreten. Sein Publikum besteht aus alten Männern, die ihm begütigend auf die Schulter klopfen und sich mit ihm der Lethe entgegensaufen. Einen wilden Mann aus den Bergen, nennt ihn die Wirtin, der mit Pferden arbeitet. Die Wirtin lebt in Petra, dem Nachbarstädtchen mit Wildwestflair. Ihre Großeltern sind aus der Türkei geflüchtet, wie so viele Vorfahren der Inselbewohner. Vielleicht hätten die Leute hier deshalb Verständnis für die Flüchtlinge, meint sie. Sie ist stolz auf ihren Sohn bei der Armee und hat Angst um ihn. Sie hat Angst vor einem Krieg mit den Türken. Ölquellen im Meer, erfahren wir.

Tsipras? Der Kellner im Nachbarrestaurant zuckt die Achseln: Der ist von den Amerikanern gekauft und verrät das griechische Volk. Die Touristen bleiben weg, wo wird er nächstes Jahr arbeiten?

Eine wohltuende Freundlichkeit umgibt uns. Es ist nicht nur die Geschäftstüchtigkeit von Restaurantbesitzern, die im Hafen ihre Fangnetze nach Touristen auswerfen oder einen in einer abgelegenen Gasse ins Innere locken, um einen mit einem schillernden Fisch-Topmodel zu verführen. Einen dann zu mästen mit Vorspeisen und Baklava, alles aufs Haus. Es sind die Plaudereien, das Gratislächeln. Der Alte, der Esel auf Keramik pinselt und morgens früh in einer weißen Badekappe seine Runden im Meer dreht, laut mit sich und dem Meer palavernd; auch wir kriegen eine Wortspende. Nur dass ich meinen griechischen alias türkischen Kaffee mit Milch trinke, erweckt Ungnade. Ein zu barbarisch-blasphemischer Akt!

Neben dem Hochgebirge auf meinem Frühstücksteller steht ein dürrer dunkler Mann mit einem Kind mit verwildertem Schopf auf dem Arm. Die Hotelgäste spießen mich mit ihren Blicken auf, feige trau ich mich nicht, ihnen die Taschen voll zu stopfen. Hole zehn Euro, laufe, rufe ihnen hinterher. I love Roma, steht auf dem T-Shirt des Mannes. Ein paar Stunden später sehe ich die beiden auf dem Sandstrand von Petra. Motiviert, ich bin beeindruckt.

„Sicher haben Sie keinen Flüchtling gesehen!“ Die Wienerin im Transfer-Bus, die seit 30 Jahren auf Lesbos lebt, lobt die Organisation dort. Dann spricht sie über die halbe Million Flüchtlinge, die eine Insel mit 100 000 Bewohnern passiert haben, über die Leistung einer schon arg gebeutelten Bevölkerung. Von den mythischen drei Greisinnen in Schwarz, die zu den Flüchtlingen gingen, Müttern halfen, so gut sie konnten. Am Flughafen hängt ihr Foto, eine gibt neben einer Kopftuchmutter einem Baby das Fläschchen.

„Dass man die Bevölkerung so im Stich lässt, hat sie nicht verdient. Erzählen Sie überall, wie gut es Ihnen auf Lesbos gefallen hat!“ fleht sie. Das tue ich hiermit.

Michèle Thoma
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