Einkaufszentrum

d'Lëtzebuerger Land du 25.05.2012

In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Konsumenten und meist auch ihr verfügbares Einkommen, doch der Umsatz des Handels geht zurück. Dieses Paradox beschäftigt anhaltend den Handelsverband, seine Branchenvereinigungen und die Geschäftsverbände und produziert immer neue Führungswechsel, Strategieänderungen, Verbraucherumfragen und Marktanalysen, die an das Bemühen der ebenfalls geplagten Fremdenverkehrsindustrie erinnern. Die Schuldigen werden, je nach Sektor, bei den Einkaufszentren, den Tankstellen oder den Franchising-Ketten, bei der Konkurrenz in Trier und Metz, dem gesetzlichen Mindestlohn, den Ladenöffnungszeiten oder den Geschäftsmieten, den belgischen Generalvertretungen und regelmäßig auch bei der Regierung gesucht.

Für den Handelsverband entstehen die Probleme des heimischen Handels durch die gleich doppelte Konkurrenz, der er nunmehr ausgesetzt sei: aus dem nahen Ausland und aus dem Internet. Ein zusätzliches und keineswegs das geringste Problem ist sicher, dass – wenn er sich nicht ganz auf den Verkauf von Markenuhren und Luxustaschen an reiche Durchreisende beschränken will – kaum ein anderer Sektor der Volkswirtschaft so von der Binnennachfrage abhängig ist wie der Handel. Und dies in Zeiten der Globalisierung und des internationalen Konkurrenzkampfs, da die Binnennachfrage gebremst wird, um die Gestehungskosten der Exportindustrien zu senken und so ihre Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Der Handelsverband verkörpert selbst dieses Dilemma, wenn er in seinem neuen Strategiepapier für das Jahr 2020 aufzählt, dass die Kunden immer größere Fach- und Sprachkenntnisse sowie immer raffiniertere Umfangsformen vom Geschäftspersonal erwarten, er aber gleichzeitig vorschlägt, dass die Lohnkosten für die immer qualifizierteren Verkäuferinnen nicht schneller als der Umsatz wachsen dürfen.

Weil der Handel ein Wirtschaftssektor mit 23 000 Beschäftigten in 3 500 Betrieben ist, nimmt sich die Regierung selbstverständlich seiner an, mit einem auch aus parteipolitischen Ursachen sorgfältig vom Wirtschaftsministerium getrennten Mittelstandsministerium. Premier Jean-Claude Juncker wundert sich zwar gerne über die seiner Meinung nach schwer nachvollziehbaren Gewinnspannen und darüber, dass die gleichen Waren trotz niedriger Mehrwertsteuer hierzulande teurer seien als im Ausland. Doch in seiner Erklärung zur Lage der Nation 2006 hatte er, beinahe aus heiterem Himmel, großspurig versprochen, „Luxemburg zum Haupteinkaufszentrum der Großregion zu machen, ein Einkaufszentrum, wo die anderen hinkommen, statt dass wir zu den anderen gehen“, einschließlich eines vergleichenden Preisindexes und einer „großen Marketing-Offensive“.

Ob diese Politik ein Erfolg war, darüber darf man nach sechs Jahren geteilter Meinung sein. Denn in ihrem Strategiepapier freut sich der Handelsverband zwar darüber, dass die „Kaufkraftflucht“ ins nahe Ausland inzwischen rückläufig sei. Aber die staatlich finanzierten Werbekampagnen im Ausland sollten eigentlich eine „Kaufkraftflucht“ aus den Nachbarregio­nen nach Luxemburg auslösen. Sie wäre um so willkommener, als der Handelsverband gleichzeitig darauf hinweisen muss, dass die heimischen Haushalte 9,3 Prozent weniger im Einzelhandel ausgaben: Was sie seit 2006 zusätzlich an verfügbarem Einkommen erhalten hätten, sei für die steigenden Kosten des Wohnen ausgegeben worden oder, anscheinend entmu­tigt durch das ständige Krisengejammer von Regierung, Zentralbank und Unternehmerverbänden, sicherheitshalber gespart worden, statt es zu verkonsumieren. Dabei ist für den Handelsverband klar, dass das individualisierte Einkaufserlebnis der Zukunft nur Optimisten Spaß macht.

Romain Hilgert
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