Die kleine Zeitzeugin

Ich war einmal in Karlsruhe

d'Lëtzebuerger Land du 03.08.2018

Na und?, mag sich Passantin dieser Zeilen fragen. Was ist daran so Besonderes? So besonders Besonderes? Ja, vielleicht nichts.

Woran erinnere ich mich, wenn ich mich an Karlsruhe erinnere? An ein paar angenehm dahin schlapfende Tage, an die Nächte erinnere ich mich kaum, ich glaube, ich habe sie verschlafen. Ich wandele durch das Städtchen mit seinen Menschen, die mir ebenfalls angenehm erscheinen. Ich luge von meinem Hotelzimmerbalkon

zwischen Gerüsten durch auf einen Platz, der jetzt eine Baustelle ist. Angeblich der schönste Platz in der Stadt. Die ganze Stadt, die angeblich schön ist, ist eine Baustelle, muss auch mal sein. Trotzdem bemüht sie sich nach Leibeskräften, nett zu sein.

Manchmal erschrecke ich, dieses offene Lächeln, diese frisch gewaschene Freundlichkeit der Menschen hier, ich bin schon zu lang im klebrigen Wien stationiert. Die Männer hier, notiere ich, starren exzessiv aufs I-Pad, sehr brav. Die älteren Damen haben Haar aus Familiensilber. Das Proletariat stört weiter nicht. Die Türk_innen benehmen sich anders als die Türk_innen in Wien, sie radeln sogar. Überall wird geradelt, parallel, diagonal, um eine im Kreiselverkehr herum, ihr wird schon ganz kreiselverkehrt. Aber aufs Anmutigste, Karlsruhe ist eine anmutige Stadt.

Wer hätte das gedacht? In meiner jugendlichen Arroganz trampte ich unzählige Male an der Autobahnabfahrt Karlsruhe vorbei, innerlich gähnend: Karlsruhe, ist das nicht was mit Technik? Mit Revolution eher nicht.

Aber wer braucht hier Revolution? Die jungen Leute hier radeln wie mit Engelsflügeln, und es ist alles voller junger Leute, dazu erklingt eine Sonate im Hintergrund. Aber dann auch wieder zeitgenössische Musik, Baustellenlärm. Medien und Kunst sind jetzt auch hier.

Der Hotelzimmerbalkon ist von der Art, die zum Verweilen einlädt, vielleicht sollte ich buchen, für immer, bis Nichts. Ein guter Ort zum Ergrauen und in die barocke Welt zu schauen. Sie scheint überschaubar. Irgendwo ist angeblich ein Schloss mit einem Park. Selbst ich wohne in einer Art Suite, mit Sitzgelegenheiten, in denen ich allerlei Gelegenheiten zum Sitzen habe, die ich wahlweise ausprobieren kann.

Schräg gegenüber befindet sich das Haus, in dem die Karlsruher Bücherschau stattfindet, das Gastland ist Luxemburg. Luxemburg tritt dabei relativ understatement- mäßig auf, es ist kurz vor Nation Branding. Drinnen gibt es aber Regale mit etwas luxemburgischer Literatur drauf, und am Abend wird luxemburgische Literatur vorgetragen. Publikum erscheint, obschon es nichts zu essen gibt. Es hört zu und klatscht, wie es sich gehört. Es lacht ganz anders als das Publikum in Wien. Eindeutiger als die Wiener_innen, die man in sich hineinschmunzeln hört. Es lacht auch an ganz anderen Stellen als das Wiener Publikum nicht lacht. Nach der Lesung steuert eine Frau auf mich zu, wie eine Fanin-Furie, freue ich mich. Sie reißt mir das Buch, aus dem ich las, aus der Hand und sagt: So liest man. Sie zeigt mir, wie man liest. Dann verkriecht sie sich hinter dem Buch. So nicht! Entschuldigung, sage ich. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, sagt sie. Kulturschockiert, ich bin einfach zu lange in Wien, hätte ich mich beinahe noch entschuldigt, dass ich mich entschuldigt habe.

Nachher trinken die luxemburgischen Künstler_innen Pfälzer Wein und Badener Wein, abwechselnd. Who is who, ich versuche ein Tasting vorzunehmen und ein Ranking zu erstellen. Ich versuche, endgültig zu klären, ob ich in Baden oder in der Saumagen-Pfalz bin.

Im Schlosshotel gibt es einen muffigen Großherzogsaal. Der Großherzog hier ist nämlich ausgestorben. Wir haben noch einen, den letzten!, triumphiere ich. Ich triumphiere mild. In dieser Stadt ist alles mild.

Das Schlimmste, woran ich mich erinnere, ist der Name einer Straße, die Kriegsstraße heißt. Das Schönste waren die Engel. Auch wenn sie etwas nervten, die Engelquote war extrem hoch. Ihre Flügel streiften mich, die Flügel der Radlerengel, immer wieder, nur die Flügel.

Michèle Thoma
© 2023 d’Lëtzebuerger Land