Die Rentenkasse als Schneeballsystem

Politik und Mathematik

d'Lëtzebuerger Land du 04.09.2015

Der Vorsitzende der Nationalen Rentenversicherungskasse übte sich vergangenen Monat erneut als Kassandra und verglich die Rentenversicherung hierzulande mit dem Schneeballsystem, das der inzwischen zu 150 Jahren Haft verurteilte Betrüger Bernard L. Madoff benutzt hatte, um gierige Anlegerscharen zu prellen. Aus dem Mund des obersten Hüters der Rentenversicherung mag dieser Vergleich überraschen. Denn er beschreibt im Grunde nur das Prinzip des Umlageverfahrens, bei dem die Erwerbstätigen in einer Solidargemeinschaft die Renten der Pensionierten bezahlen.

Weil es eine begrenzte Umverteilungskomponente enthält, wird dieses System immer wieder bekämpft, indem Neidgefühle zwischen den Generationen geschürt werden oder das Gespenst einer „impliziten Staatsverschuldung“ von astronomischer Höhe an die Wand gemalt wird, indem das Umlage- als Kapitaldeckungsverfahren dargestellt wird. Doch selbst die regierende DP, die einst den Übergang zum von der privaten Versicherungswirtschaft gewünschten Kapitaldeckungsverfahren versprochen hatte, will nicht mehr von dem angeblichen Ponzi scheme der allgemeinen staatlichen Rentenversicherung abkommen.

Vor allem verübelt der Präsident seiner Kasse, dass sie den Versicherten derzeit zwar weniger als die 24 Prozent an Lohnmasse als Renten auszahlt, die sie als Beiträge erhebt, aber seinen Berechnungen nach langfristig 48 Prozent der Lohnmasse an Renten verspreche, wie er im Interview mit Radio 100,7 bemängelte. Dieses scheinbare Paradox ist bisher so ergiebig, dass es ansehnliche Überschüsse produziert und die Rücklagen der Rentenkasse weiter steigen. Nicht weil die Löhne mit der Produktivität schneller wüchsen als die Renten, sondern weil über die Jahre die Zahl der Erwerbstätigen und damit der Beitragszahler rapide zunimmt, vor allem Grenzpendler, Einwanderer und einheimische Frauen. Doch Ende des Jahrzehnts würden die laufenden Ausgaben der Kasse das Niveau der laufenden Einnahmen erreichen, so dass noch einmal ein Jahrzehnt später auf die Rücklagen zurückgegriffen werden müsse.

Auch wenn sich demographische Vorhersagen seit Jahrzehnten regelmäßig als falsch erweisen, insbesondere wenn sie sich auf die Rentenversicherung beziehen, erfreuen sich Kassandrarufe über die Zukunft der Rentenversicherung großer Beliebtheit. Während seine Partei die großzügigen Reformen des Rententischs stimmte, schürte Jean-Claude Juncker Panik vor der Rentenmauer und dem 700 000-Einwohnerstaat. Deshalb überrascht es, wenn nun ausgerechnet zwei CSV-Abgeordnete Sozialminister Romain Schneider (LSAP) dazu bewegen, sich im Namen der Regierung von den Prognosen des Präsidenten der Rentenkasse zu distanzieren. Der Minister sieht jedenfalls keinen Grund zur Beunruhigung, denn die Erwerbstätigkeit nehme weiterhin rascher zu als erwartet und die Rücklagen reichten bis 2040 oder 2060. Andere Länder beneideten deshalb Luxemburg um Rücklagen, aus denen mehr als vier Jahre lang alle Renten ausbezahlt werden könnten, ohne einen Euro Beiträge zu erheben.

Was will der Minister damit sagen? Dass er kein Mathematiker, sondern ein Politiker ist, und es deshalb in seiner Macht liegt, für unumstößlich gehaltene Axiome zu ändern, die einer Berechnung zu Grunde liegen? Zum Beispiel die Höhe der im internationalen Vergleich sehr niedrigen Beiträge, eines der wenigen tatsächlichen Tabus der heimischen Politik? Aber vielleicht wollte der Minister auch nur eines sagen: Nächstes Jahr soll die erste Zwischenbilanz der Rentenreform von 2012 erstellt werden. Und so unbeliebt, wie die Regierung inzwischen ist, will sie die Wähler eher mit der Glättung des Mittelstandsbuckels in der Steuertabelle besänftigen, als sich kurz vor den Wahlen auch noch die Finger an den Renten zu verbrennen.

Romain Hilgert
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