Die Uni fördert den pädagogisch-didaktischen Einsatz von IT im Unterricht. Jetzt muss das nur noch in der Schule ankommen

Nimm das Schlauchboot

d'Lëtzebuerger Land vom 13.03.2020

So stellt man sich einen Computer-Lehrer vor: verwuscheltes Haar, drahtige Brille, ein T-Shirt, das lose in die Jeans gesteckt ist. Und falsch ist der Vergleich nicht: „Ich habe als 15-Jähriger meinem Vater gesagt, ich bräuchte einen Computer für die Hausaufgaben. Aber wie die meisten in meinem Alter hab ich ihn genutzt, um heimlich Videospiele zu spielen“, erzählt Robert Reuter lachend. Er beschreibt sich selbst als einer „von denen, die einen Beruf ausüben, in dem sie nicht ausgebildet wurden“.

Der promovierte Psychologe hat sich auf Lerntheorien spezialisiert und zunächst mehr nebenbei mit Computern zu tun. Heute ist Reuter Dozent an der Uni Luxemburg und im Bachelor-Studiengang Erziehungswissenschaften verantwortlich für die Seminare zum E-Learning/E-Teaching. Seine Aufgabe ist es, angehende Lehrerinnen und Lehrer auf den digitalen Unterricht vorzubereiten. Bei ihm sollen sie lernen, wie sie die Technologien sinnvoll in der Schule einsetzen können, transversal in allen Fächern. Denn: Digital Literacy gilt heute als Basiskompetenz, um erfolgreich in einer Welt zu bestehen, die zunehmend von digitalen Medien und Prozessen durchdrungen wird. Das findet nicht nur die EU-Kommission, das sagt auch Bildungsminister Claude Meisch (DP).

„Den Schülern einfach ein Tablet in die Hand zu drücken, reicht aber nicht“, mahnt Reuter. Und erläutert das Dagstuhl-Dreieck. Das Modell heißt so, weil es von IT-Forschern und Medienpädagogen am Leibniz-Zentrum für Informatik im saarländischen Schloss Dagstuhl entwickelt wurde. Die drei Schenkel eines Dreiecks zeigen drei Perspektiven der digitalen Welt: die technologische, dabei geht es um Erklärungen, wie was warum technisch funktioniert, die anwendungsorientierte, wie und wann Informationstechnologien sinnvoll im Klassensaal eingesetzt werden (Mediendidaktik) und schließlich drittens die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive, wie und warum die Technologien wirken. „Bildung im digitalen Zeitalter geschieht nicht losgelöst im virtuellen Raum, sondern hat Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und die Art, wie wir zusammenleben, arbeiten und kommunizieren“, erklärt Forscher. Alle drei Perspektiven sollten vom Lehrpersonal im Unterricht angesprochen werden.

Für dessen Gestaltung macht Reuter vier Handlungsebenen aus: die rezeptive, die aktive, die kreative und die co-kreative Ebene, und er springt kurz auf, um eine Tabelle zu zeigen, die die Lernformen näher erklärt. Im Prinzip geht es um ein tieferes Lernen: vom bloßen Wiederholen (rezeptiv), über das Einbinden der Schüler (aktiv) von Inhalten bis zum gemeinschaftlichen Ideenentwickeln (co-kreativ).

Wenn der Wissenschaftler von E-Teaching spricht, klingt das zunächst theoretisch und man fragt sich unweigerlich, was davon in Luxemburgs Schulen wirklich praktiziert wird. Reuter sagt: „Die digitalen Medien sind in der Schule angekommen.“ Via Fragebögen hatte der Wissenschaftler zunächst 2009 und dann noch einmal 2015 Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Nutzung der Informationstechnologien (IT) im Unterricht sowie privat befragt. „In den sechs Jahren ist viel geschehen.“ Fast alle Lehrer benutzen heute ein Smartphone, sie bereiten Kurse auf dem Laptop vor, kommunizieren mit der Schulleitung, den Kollegen, den Schülern via E-Mail. Mit der Klassenbuch-App Webuntis sind Stundenplan, Hausaufgaben, Projektwochen und andere Aktivitäten für alle online einsehbar.

Doch was aus dem Schulalltag als Organisationsmittel nicht mehr wegzudenken ist, scheint im Unterricht als didaktisches Instrument weniger präsent. „Der sinnvolle Einsatz der Technologien steht in vielen Klassen noch am Anfang“, sagt Reuter. Viele Unterrichtseinheiten gingen über rezeptive und leicht aktivierende Lernformen nicht hinaus. Das heißt, Schüler lernen vielleicht anhand kleiner Video-Lehrfilme (Tutorials) und sie bekommen Rechercheaufgaben, die sie mithilfe des Internets lösen sollen. Manche Grundschullehrer belohnen Schüler, wenn sie ein bestimmtes Lernpensum geschafft haben, den Rest der Stunde am Computer zu arbeiten. „Das ist mit sinnvollem zielorientiertem Einsatz nicht gemeint“, betont Reuter. Würden Laptop und Tablet lediglich genutzt, „um so zu lernen, wie seit Jahrzehnten gelernt wird“, etwa durch simples Abfragen und Wiederholen, gehe viel gestalterisches Potenzial verloren. (Und Geld, denn Tablets an alle Schulen auszugeben, kostet Millionen).

Um Mädchen und Jungen kreativ und co-kreativ arbeiten zu lassen, müssen sie von vornherein in die Fragestellungen einzogen werden, wie das etwa im Projektunterricht geschieht. Können Schüler selbst Probleme erkennen und diese im Team mithilfe digitaler Technologien gemeinsam angehen, entstehe „etwas Neues“, so Reuter. Das sehe er in den Schulen „noch zu selten“.

Ein Problem sind laut Reuter die Erwartungshaltungen in und gegenüber der Schule. Vollgepackte Lehrpläne und Prüfungen ließen wenig Platz, um mit dem Computer zu experimentieren. Eltern üben Leistungsdruck aus, erwarten gute Noten, vergleichen ihre Kinder anhand der Hauptfächer. Statt Neugierde und unkonventionelles Denken zu fördern, entstehe so ein permanenter Druck zu Konformität und Anpassung. Die sechs Cs von Fullan und die fünf Ks von Minister Meisch (siehe S. 32) seien im Unterricht„noch nicht überall angekommen“. Trotzdem ist Reuter optimistisch und sieht die Schulen auf einem guten Weg: „In den vergangenen Jahren hat sich die Schule viel stärker nach außen geöffnet.“

Vorgegebene Stundenpläne lassen Lehrern wenig Raum und Zeit, um digital kreativ zu werden. Um Ideen zu entwickeln, brauche es Zeit und die Möglichkeit, nicht sofort ein messbares Ergebnis vorlegen zu müssen. Aber wo diese Räume im Lehrplan finden, wenn Lehrer vor allem als Experten eines Fachs und als Wissensvermittler auftreten statt als jemanden, der wie ein Coach Anreize zum Lernen gibt?

Es habe sich einiges verbessert, findet Reuter und nennt die Makerspaces, aber die meisten Initiativen fänden immer noch neben dem regulären Unterricht statt, in Projektwochen oder in den Pausen. Auch die Öffnungen der Grundschulen im Rahmen der 2009-Reform sieht Reuter skeptisch: Die Zyklen, die die alte Organisation der Jahrgangsklassen abgelöst haben, seien eigentlich dazu gedacht gewesen, „um unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten Rechnung zu.“ Das würde aber kaum geschehen und das Potenzial altersgemischter Gruppen nicht erkannt. Leistungsstärkere Schüler können Nachzüglern helfen und sie mitziehen. „Ich habe die Freiheit der Lehre auch erst an der Uni erkannt.“ Für den Forscher ist der starke Fokus auf die Hauptfächer nicht unproblematisch: „Wir haben die Tendenz, nur dass zu schätzen, was wir messen können.“

Um die herkömmliche Didaktik im Unterricht schrittweise in Richtung digital zu verändern, setzt er auf die Idee der disruptiven Innovationen: „Der 3D-Drucker ist so eine Innovation für die Industrieproduktion.“ Mit dem Drucker können Produkte schnell und relativ preisgünstig angefertigt werden. In der konventionellen Produktionslogik kostet ein Einzelstück ein Vermögen. Ein Produkt rechnet sich erst, wenn es zu Tausenden übers Band gehen kann. 3D-Druck schreibt nun diese Regeln neu und bricht so alte Gewohnheiten und Märkte auf.

Beim Schulsystem seien Innovationen schwieriger und Reuter greift das Bild vom Schiff auf: Ein Kreuzfahrtschiff kann nicht schnell wenden, sondern braucht für Wendemanöver Zeit. „Trotzdem würden viele Eltern, hätten sie die Wahl, ihre Kinder eher auf dem Schiff unterbringen als im Schlauchboot“, so Reuter. Dabei sind es die wendigen Schlauchboote, die im Notfall die Rettung bringen. „Schule braucht mehr disruptive Innovation“, findet Reuter und digitale Medien könnten diese im Unterricht sein. Deshalb ist er auch kein Gegner von Handys in der Klasse wie manch ein Kollege. Auch das Smartphone kann pädagogisch sinnvoll sein: Mit ihren Handys können Schüler Filme für Projektarbeiten drehen, sie gemeinsam bearbeiten oder Fotodokumentationen erstellen. Es gibt inzwischen unzählige didaktisch gut gemachte Apps für den Schulunterricht. Noch ein Vorteil: (Fast) Jede/r besitzt eins, es ist einfach zu bedienen und sofort einsetzbar.

Ines Kurschat
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