Männer gegen Gewalt

d'Lëtzebuerger Land vom 27.11.2020

Am zweiten Tag der Orange Week gegen Beziehungsgewalt und Feminizide (Frauenmorde) wird ausgerechnet eine Frau vom Diekircher Strafgericht zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt (davon zehn auf Bewährung), weil sie ihren Partner mit einem Messer in die Brust gestochen hatte. Es geschieht nicht so oft, dass Frauen ihre Partner tätlich angreifen und schwer verletzen oder gar töten, aber es kommt vor. Gleichwohl wird das Gros der Partnergewalt noch immer von Männern begangen, Schätzungen zufolge sind rund 80 Prozent der häuslichen Gewalttäter männlich. Deshalb eine Gedankenübung.

Stellen wir uns vor, mehr Männer würden nicht nur zur Orange Week gegen Gewalt und gegen das Töten von Frauen und Mädchen demonstrieren, sondern das ganze Jahr über.

Stellen wir uns vor, mehr Männer würden bei Streit, Konflikten und Meinungsverschiedenheiten ihre Wut, (Ohn-)Macht und ihr eigenes Verletztsein anders kanalisieren, als durch Gewalt, Aggression oder sogar Mord.

Stellen wir uns vor, mehr Männer würden auf der Arbeit, im Büro, in der Freizeit und daheim die Stimme erheben gegen sexistische Witze, gegen das Aussehen bewertende Sprücheklopferei oder gegen sexuelle Belästigung.

Stellen wir uns vor, Männer, die sehen, wie eine Frau in der Disko, im Bus, auf der Straße oder im Freundeskreis bedrängt wird, würden nicht schweigen, sondern sich laut einmischen und fragen, ob sie ihre Unterstützung braucht und sie dann leisten.

Stellen wir uns vor, Männer würden andere Männer, die sich anmaßen, Frauen zu sagen, was sie mit ihrem Körper tun oder lassen sollen, in Schranken verweisen und das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und körperliche Unversehrtheit von Frauen ohne Wenn und Aber respektieren.

Stellen wir uns vor, noch mehr Männer würden sich einbringen in die familiäre Erziehung und helfen, empathische Jungen und selbstbewusste Mädchen aufzuziehen, für die gleichberechtigte Lebensentwürfe selbstverständlich sind, weil ihre Eltern sie ihnen vorleben.

Stellen wir uns vor, wir hätten gewalt- und diskriminierungsfreie Schulen, in denen Kinder ohne Mobbing und Bullying aufwachsen, wo es vielleicht Dress codes gibt, diese aber vorurteils- und diskriminierungsfrei zusammen aufgestellt und umgesetzt werden. Wo Schulbücher keine geschlechtertypischen Klischees reproduzieren, sondern Jungs und Mädchen, Frauen und Männer frei sind, ihren Talenten und Interessen nachzugehen, ungeachtet ihres Geschlechts.

Stellen wir uns vor, wir hätten eine so geschulte Polizei und Justiz, dass Opfer von Beziehungsgewalt mit dem nötigen Respekt vorurteilsfrei gehört werden, dass Frauen, biologisch oder nicht, von Behörden so behandelt werden, dass Re-Traumatisierungen vermieden werden. Und die Partnergewalt nicht, alle Machtverhältnisse ignorierend, zurück in die Privatheit und damit in die Verschwiegenheit verbannt.

Stellen wir uns vor, wir hätten Funktionsträger/innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die das Anliegen der Orange Week nicht nur mit Worten unterstützen, sondern mit Taten. Die in ihrem Einflussbereich prüfen, wie sie Geschlechterbarrieren abbauen und zu mehr Gleichberechtigung beitragen können. Stellen wir uns beispielsweise vor, wir hätten eine Justizministerin, die analysieren würde, inwiefern unser Strafrecht sexualisierte Gewalt wirksam verfolgt und bestraft und eventuelle lebensgefährdende Lücken zügig schließt, ohne extra dazu aufgefordert zu werden.

Stellen wir uns vor, dass diejenigen, die sich international an höchster Stelle für Opfer von sexualisierten Kriegsverbrechen einsetzen, nicht daheim versuchen, frauenfreundliche Abtreibungsgesetze zu blockieren.

Stellen wir uns schließlich vor, Radio- und Fernsehsendungen, Zeitungs- und Onlineartikel zur Orange Week würden nicht nur Frauen als Gäste und Expertinnen einladen, sondern vielmehr Männer auffordern, Farbe zu bekennen und konkret zu benennen, wo sie im Alltag Sexismus und sexistische Gewalt eindämmen helfen.

Ihnen fällt es schwer, sich das alles vorzustellen? Dann bleibt noch viel zu tun.

Ines Kurschat
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