Die digitale Lernkultur des liberalen Bildungsministers ist in erster Linie auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet

Wo bleibt der Mensch?

d'Lëtzebuerger Land du 13.03.2020

Luxemburgs Schulen brauchen mehr Freiraum, hatte Claude Meisch vor gut einem Jahr im Gespräch mit dem Land gesagt. Die Rede ging um die Herausforderungen der Digitalisierung und wie die Informationstechnologien in die schulische Praxis und den Unterricht einzubauen seien. Seitdem sind etliche Projekte erstanden. Rund die Hälfte aller Lyzeen hat einen Makers Space, eine Art Kreativ-
atelier, in der Technikaffine und Neugierige sich ausprobieren, Tipps austauschen und eigene Projekte starten können. Im Kontext der Techschools (S. 30) können sie komplexere Themen wie Robotik und künstliche Intelligenz angehen; immer mehr Schüler nutzen das Angebot auch.

Bildungsexperten wie der Brite Ken Robinson oder der Kanadier Michael Fullan sind sich einig: Nur Freiräume neben dem regulären Unterricht zu schaffen, reicht nicht aus, um Mädchen und Jungen auf die vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Nicht nur benötigen global agierende Unternehmen mit immer komplexeren digitalisierten Produktionsprozessen exzellent ausgebildetes Fachpersonal. Die Folgeschäden eines wenig regulierten Kapitalismus, der seine Gewinne auf Kosten der Umwelt erzielt, und einer konsumfixierten nicht-nachhaltigen Lebensweise, die auf dem Rücken ärmerer Länder und Menschen gelebt wird, müssen ebenfalls gelöst werden.

Um den Raum für Innovation und Ideen zu schaffen, gehen Schulen insbesondere im angelsächsischen und im asiatischen Raum, Vorreiter in Sachen Digitalisierung, längst andere Wege. Im Mittelpunkt stehen die „ six C’s of deep learning“ nach Michael Fullan und Geoff Scott: Critical thinking and Problem solving, Cooperation, Creativity, Communication, sowie Citizenship und Character building, wobei letztere bei Kopien und Varianten dieser Sekundärtugenden für eine Bildung im 21. Jahrhundert nicht vorkommen. Auch Claude Meisch hat seine Anfang Februar vorgestellte „digitale Offensive“ auf fünf Ks ausgerichtet: kritescht Denken, Kreativitéit, Kommunikatioun, Kooperatioun und Kodéieren. Freilich ohne zu verraten, von wem er das Konzept übernommen hat. Und bezeichnenderweise ohne die Dimensionen Citizenship und Character building.

Die sechs Cs nach Fullan und Scott sind aber kein Werkzeugkasten, um ein Arbeitskräftemagnet aufzubauen ganz nach Vorbild und Geschmack des Silicon Valley. Fullan fordert eine Neuausrichtung der öffentlichen Schulen, sich stärker den Herausforderung einer durch Digitalisierung und Automatisierung wandelnden Gesellschaft und der Arbeitswelt zu widmen – und dabei nicht die Menschlichkeit und die Menschheitsprobleme zu ignorieren. Der digitale datenbasierte Fortschritt ist nicht zu stoppen. Mit dem Internet beschleunigen sich interne Arbeitsprozesse. Immer mehr Aufgaben werden von Robotern oder Algorithmen übernommen – zum Nutzen der Menschen, aber auch zu ihrem Nachteil.

Laut einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist rund die Hälfte aller Arbeitsplätze der 32 Staaten, die an der Untersuchung teilgenommen haben, durch Maschinen und Algorithmen bedroht. Das beträfe OECD-weit mehr als 66 Millionen Beschäftigte. Eine der größten Branchen hierzulande ist der Banken- und Versicherungssektor. Online-Banking und Bankautomaten machen Dienste direkt am Schalter zunehmend überflüssig. Die Schließungen von elf Spuerkees-Filialen und vieler Postämter übers Land sind nur ein Vorgeschmack auf die Umwälzungen, die diesem Sektor noch bevorstehen.

Noch nie stand so viel Wissen zur Verfügung wie heute. Suchmaschinen sorgen dafür, dass im Netz per Mausklick fast alles nachgesucht werden kann. Memorisieren, simples Auswendiglernen von Fakten und Zusammenhängen, wird der rasanten Entwicklung, in der die Halbwertzeit von Wissen sinkt, nicht länger gerecht. Was Kinder heute lernen, ist morgen aufgrund der Zugänglichkeit von Wissen und des wissenschaftlichen Fortschritts womöglich obsolet. Zugleich ist die Masse an Informationen, die im Netz kursieren, von sehr unterschiedlicher Qualität. Damit Heranwachsende, wenn sie in die Arbeitswelt einsteigen, die Spreu vom Weizen trennen und nützliches, abgesichertes Wissen von Fake News und Desinformation unterscheiden können, müssen sie lernen, Informationen zu verifizieren. Das ist leichter als gesagt als getan, wenn sogar Profis, JournalistInnen, Fake news übersehen und Fälschungen durch den technologisch-informatischen Fortschritt immer perfekter werden, wie das Beispiel der Deep Fakes zeigt.

Kritisches Denken befähigt junge Menschen Fakt von Fiktion zu unterscheiden und eine Information gemäß ihrer Relevanz und Bedeutung einzuordnen. Das ist angesichts der starken Ideologisierung und Emotionalisierung im Netz keine leichte Aufgabe. Wer weiß, woher eine Info kommt und weshalb sie so und nicht anders präsentiert wird, kann Zusammenhänge durchschauen, versteht Probleme besser und kann eine eigene Haltung dazu entwickeln. Zum Beispiel zu den Chancen und Risiken eines immer rasanter, vernetzt und global agierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems, die für die Natur und also für den Fortbestand der Menschheit existenziell sind. Fullan bringt hier die Ethik ins Spiel.

Das Ministerium hat mit Anschubhilfe aus Brüssel diese Woche den ersten Medienkompass für Schulen und Jugendhäuser vorgestellt. Er orientiert sich an Leitlinien zur Digitalen Strategie der Europäischen Union und soll den Rahmen für eine landesweite Medienerziehung bilden. Leider wurden die Profis aus Zeitung, Funk und Fernsehen selbst nicht in die Erstellung einbezogen, sonst wäre vielleicht der starke Fokus auf eine wirtschaftliche Nutzbarmachung von vor allem digitalen Medienkompetenzen aufgefallen.

Die Menschheit muss Lösungen zu immer komplexer werdenden Probleme finden, darunter Umweltverschmutzung, Armut und Krieg. Dazu braucht es kluge Köpfe, die kreativ denken. Das ist keine Eigenschaft, die mensch hat oder nicht. Kreativität kann gefördert und gelernt werden. Indem man beispielsweise Freiräume schafft, in denen Jungen und insbesondere Mädchen (die beim digitalen Wettlauf riskieren, abgehängt zu werden) unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem werfen und abseits von festen Lernzielen eigene Lösungen entwickeln und testen können – ohne dass Irrtümer und Irrwege negativ bewertet werden.

Das geht nicht in einer rigiden Leistungskultur, wie sie an Luxemburgs Schulen dominiert, in der alle Schüler denselben (oft als einzig richtigen vorgegebenen) Lösungsweg nachvollziehen müssen, Abweichung nicht anerkannt und Fehler mit Punktabzug bestraft werden. Trial and error ist das A und O für den kreativen Prozess ohne Denkverbote. Um abseits ausgetretener Pfade denken zu können, muss es Lehrkräfte geben, die ungewöhnliche Überlegungen eben nicht sofort wieder einfangen, um sie in standardisierte Formate zu pressen, sondern die offen sind, die Risikobereitschaft fördern und jungen Menschen vertrauen, sich erst einmal auszuprobieren, auch wenn Erwachsene nicht sofort erkennen, wohin die Reise geht.

In den vergangenen Jahrzehnten hat der Wohlstand weltweit zugenommen, gleichzeitig klafft die Schere zwischen Arm und Reich in vielen Ländern, nicht zuletzt in Luxemburg, immer weiter auf. Die Zukunft birgt Herausforderungen, die größer sind als vieles, was vorige Generationen gekannt haben. Stichwort: Klimawandel, Ende fossiler Brennstoffe und Umweltverschmutzung, künstliche Intelligenz, damit verbundene ethische Fragen, oder auch die von Luxemburg angeschobene Ausbeutung des Weltalls. Künftige Generationen müssen also Probleme lösen, die wir heute gar nicht kennen, geschweige denn für die Ausbildungen und Berufe existieren. Und weil alles miteinander zusammenhängt, das Klima mit der Wirtschaft, das Wohlstandsgefälle mit der Migration, das Weltall mit der Ressourcenverschwendung ist vernetztes kritisches Denken und die gemeinsame Suche fächerübergreifender Lösungen unabdingbar.

Teamfähigkeit und Kreativität sind eben nicht nur Schlagwörter von Managern, die damit noch mehr aus Menschen pressen wollen, um höhere Renditen zu erzielen. Sondern sie beschreiben notwendige Kompetenzen, die die öffentliche Schule Kindern vermitteln muss, um der Zukunft in ihrer Komplexität gewachsen zu sein. Dabei geht es eben nicht nur um das Zusammenbringen unterschiedlicher Disziplinen oder Sichtweisen, um (wirtschaftlich verwertbare) Innovation anzustoßen. In der Gruppe üben Schüler ein, dass es mehrere Sichtweisen auf dasselbe Problem geben kann und lernen, die eigene Sichtweise zu hinterfragen und Meinungen zu argumentieren, sie schulen ihre Charakter, eine weitere wichtige Kompetenz, um sich als Bürger/in (Citizen) am Aufbau einer friedlichen, gerechten und demokratischen Gesellschaft einzubringen.

Bleibt die Kommunikation. Hier ist sie an letzter Stelle genannt, in Wirklichkeit geht nichts ohne sie. Wer nicht mitzuteilen weiß, wo der Schuh drückt, wer Inhalte nicht vermitteln kann, riskiert, abseits zu bleiben. Im Zeitalter des Internets, in dem Menschen via Smartphone ständig in Kontakt stehen, eigene Inhalte posten und ein Aufregerthema nach dem anderen durch die sozialen Netzwerke jagt, scheint das kein großes Problem mehr. Doch zielführende Kommunikation ist mehr. Dabei geht es um Aspekte, wie inklusive Sprache und Räume zu schaffen, in der Betroffene zu Wort kommen.

Die sechs Cs gehören zusammen: Kritisches Denken befähigt Menschen, zu hinterfragen, was ihnen vorgesetzt wird, und eigene Standpunkte und Ideen zu entwickeln. Mit dem Internet lernen sie, Informationen zu überprüfen und Kontexte zu verstehen. Kreativität brauchen sie, um Lösungen abseits des Mainstreams zu finden. In Zusammenarbeit mit anderen lernen sie, ihre Ideen und Interessen zu verteidigen, auf Inkohärenzen zu überprüfen und auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Und mit einer ausgefeilten Kommunikation können sie ihnen Reichweite und Wirkungskraft geben.

Und die öffentliche Bildung in dem Szenario? Minister Claude Meisch hat den Schulen mehr Autonomie gegeben, doch sie wird nicht ausgeschöpft. Andere Organisationsformen sieht man kaum, es dominiert der fächerbasierte Stundenplan. Austausch über Schulen hinweg und Hospitationen gibt es zu wenig. Originelle Aktivitäten finden außerhalb der regulären Schulzeit statt. Manche Lehrer und Direktionen sind nicht willig oder fähig, die herkömmliche Schule von Grund auf in Frage zu stellen; zumal sie mit Gegenwind rechnen müssen.

Aber sind anonyme Mega-Schulen mit rigidem Fächerkanon überhaupt die richtige Antwort angesichts der Herausforderungen? Welche Talente werden durch den starken Formalismus übersehen, werden durch Ausbildungsgänge, die sich nur langsam erneuern ungenügend gefordert, weil sie im rigiden Korsett ihr Potenzial nicht ganz entfalten können? Wie viele Kinder bleiben Jahr um Jahr auf der Strecke, weil die Schulen an Prüfungen und Noten wie an religiösen Reliquien festhalten? Tatsächlich werden kleine Öffnungen, wie der kompetenzorientierte Unterricht oder die formative Bewertung, die die vorige Bildungsministerin Mady Delvaux (LSAP) eingeführt hatte, von ihrem Nachfolger zurückgedreht, weil sie Lehrern zu aufwändig sind, Eltern sie nicht verstehen und Gewerkschaften stets dagegen waren. Der Bildungsminister macht da mit und bemerkt nicht einmal, wie das die alten selektiven Mechanismen verstärkt. Und wie er damit seinen proklamierten Aufbruch untergräbt.

Ines Kurschat
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