Mehr Corona-Tote denn je, viele Infektionsketten in Altersheimen. Ministerin Corinne Cahen (DP) hält trotzdem daran fest, den Direktionen die Entscheidung über Besuch und Ausgang zu überlassen

Jiddereen a keen

d'Lëtzebuerger Land vom 04.12.2020

„Politik mat iech a fir iech. Sozial a liberal: Mir loosse kee lénks leien, a mir loosse kee riets gewäerden!“ Dieser Slogan steht auf der Facebook-Seite von Familien-, Senioren-, Integrations- und Großregionsministerin Corinne Cahen. Nur, dass dem Werbespruch direkt in den ersten Posts widersprochen wird: Eine Frau sammelt Unterschriften dafür, alle öffentlichen Behindertentoiletten mit Armstützen auszustatten. Die Anfrage habe sie schon vor drei Jahren der Ministerin unterbreitet – vergeblich. Nun ist eine Liste unterwegs. 192 Unterschriften fehlten noch, um das Anliegen vors Parlament zu bringen. Die Frau ist hartnäckig, wiederholt taucht sie in Kommentaren auf; die Ministerin äußert sich nicht dazu.

Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise ist die DP-Ministerin, die einst für RTL-Radio arbeitete, kaum um Worte verlegen und gibt sich aufgeschlossen und zugänglich. Die kritische Bemerkung eines Mannes, die Ministerin würde den Rentner-Interessenverein Amiperas nicht unterstützen und nur jene Heime besuchen, wo eh alles gut wäre, kontert sie mit: Sie habe selbst den Subsid unterschrieben, und es gebe Zuschüsse, um sozial Benachteiligten das Leben im Altersheim zu ermöglichen.

Während fast kein Tag ohne ein Facebook-Eintrag vergeht, fragen sich die Oppositionsparteien derweil, was ernst es die Ministerin mit ihrem Amt meint. Stein des Anstoßes: Cahens Krisenmanagement der Corona-Pandemie in den Alten- und Pflegeheimen. Rund 90 Prozent der inzwischen 334 Corona-Toten sind älter als 70 Jahre. Wo ist die Seniorenministerin? „Ihre Kommunikationspolitik ist die katastrophalste überhaupt“, attackiert Marc Baum von déi Lénk Cahen. „Es ist ihr Ressort, aber wenn wir Details zum Heimwesen fragen, verweist sie entweder auf das Gesundheitsministerium oder auf die Heimleitungen.“

Doppelt so viele Tote Am Montag hatte Cahen gegenüber Radio 100,7 gemeint, die Heime hätten die Krise während der zweiten Welle besser im Griff. Man habe Lehren aus der ersten Welle gezogen; das vierstufige Ampelsystem (von uneingeschränkten über teils eingeschränkten Besuch, Besuch nur auf Anmeldung bis Besuch nur bei Todkranken) entwickelt vom Dachverband der Heimträger Copas, werde in den Strukturen umgesetzt. Statt bei vielen Neuinfektionen jeglichen Besuch und Ausgang zu untersagen, setzten Heime auf flexiblere Regeln – je nach Gefahrenlage. Es sei genügend Material vorhanden, sowie eine medizinische Basisversorgung mit Sauerstoffpparaten und Medikamenten.

Der optimistischen Lesart Cahens gegenüber steht die Tatsache, dass in der zweiten Corona-Welle mittlerweile doppelt so viele Menschen gestorben sind wie in der ersten. Es sind erneut vor allem alte und gebrechliche Personen, die am Sars-CoV-2-Virus schwer erkranken und das oft nicht überleben. Wurde zu Beginn der Pandemie jede/r Tote betroffen zur Kenntnis genommen, werden die Zahlen auf Pressekonferenzen knapp vorgelesen: Mal sind es fünf am Tag, manchmal aber, wie am Dienstag, neun. Inwiefern insbesondere Risikopersonen in den 52 Alten- und Pflegeheimen besser geschützt werden, bleibt derweil unklar.

Der CSV-Abgeordnete Marc Spautz thematisierte die zahlreichen Infektionsketten in Seniorenheimen quer durchs Land in einer Aktualitätsstunde im Parlament vor zwei Wochen. Die Antwort der Regierung: Die Schutzmaßnahmen stammen vom Gesundheitsministerium, ansonsten regele jede Direktion selbst, wie sie mit der Pandemie im Haus umgeht. Schließlich sei jedes Heim unterschiedlich, manche hätten Wohngruppen, andere Apartments; daher könne es keine allgemein verbindlichen Regeln geben, sagte Corinne Cahen.

Schlüsseldaten fehlen Die Abgeordneten ärgert besonders, dass trotz des Ernsts der Lage die Berichterstattung kaum transparenter ist: Wie viel wird wann wo getestet, wer erkrankt warum, wer stirbt am Virus oder mit ihm? Wie wird der Impfstoff verteilt, wie werden die Schnelltests eingesetzt? Die Opposition drängt seit Wochen darauf, mehr Details zu bekommen. Vergeblich. Was die Frage aufwirft: Welche Daten sammeln Gesundheits- und Familienministerium zu dieser Population? Sammeln sie sie und geben sie nur nicht heraus? Anders als in Deutschland, wo das Robert-Koch-Institut die Todesursache (Vorerkrankungen oder nicht) und Ort (daheim, Klinik, Heim) aufschlüsselt und publiziert, fehlen hierzulande solche Angaben weiterhin.

Auch über die Ursachen, warum in einem Heim das Virus besonders streut und in anderen nicht, erfährt die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Dabei könnten diesbezügliche Informationen Aufschluss darüber geben, wo welche Schutzmaßnahmen zu verbessern sind. Die Seniorenministerin, deren Zuständigkeit und deren Aufgabe es ist, diesbezüglich aufzuklären, kommt selten mit harten Fakten. „Oft heißt es, die verantwortlichen Stellen seien dabei, diese zu ermitteln – und dann bekommen wir sie doch nicht“, kritisiert Marc Baum. Welche Besuchsregeln konkret in welchem Altersheim bei welchem der vier Szenarien gelten, wissen die Abgeordneten auch nicht.

Freiheitsrechte in Gefahr Das ist umso bemerkenswerter angesichts der Herausforderung, um die es geht: um zentrale Freiheitsrechte. Zwar ist der Zugang bei todkranken Covid19-Patient/innen inzwischen geregelt. Aber weiterhin entscheiden die Direktionen allein darüber, wer wann Besuch oder Ausgang bekommt, abhängig davon, wie viel Personal und welche Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, wie hoch die Anzahl der Covid19-Positiven beispielsweise in einem Haus ist. Der Präsident der Menschenrechtskommission CCDH, Gilbert Pregno, der selbst eine Verwandte in einem Heim hat, schilderte im Radio 100,7: Ihm sei erlaubt worden, seine Covid19-positiv getestete Angehörige in zehn Tagen „für eine halbe Stunde“ zu besuchen. Dann aber dürften in derselben Woche keine weiteren Angehörigen zu ihr. „Das geht nicht“, sagt Pregno entschieden. Im Gefängnis hätten die Insassen ein verbrieftes Recht auf Besuch. Von ähnlichen Zuständen hatte die von verunsicherten Bürger/innen kontaktierte Ombudsfrau Claudia Monti berichtet. Ihr Vorschlag: Sie könne als Ombudsfrau den Heimen Besuche abstatten, um nach dem Rechten zu sehen und gegebenenfalls Beschwerden aufzunehmen; vorausgesetzt, sie werde dazu eingeladen.

Für die Ministerin ist das keine Option: Das sei im Gesetz des Ombudsman nicht vorgesehen, lehnte sie auf Radio 100,7 das Ansinnen ausdrücklich ab. Dabei ist Monti nicht die erste in dem Amt mit dem Vorstoß: Ihre Vorgänger/innen Lydie Err und Marc Fischbach (heute Copas-Präsident und für das Ampelsystem mitverantwortlich) hatten das ebenfalls gefordert. Die Regierung selbst hatte Ende August bei der Menschenrechtskommission angefragt, die Krisenbewältigung in den 52 Heimen mit Blick auf die Menschenrechtslage zu analysieren. Laut Pregno ist die CCDH dazu bereit, aber nur, wenn sie dafür die nötigen Ressourcen erhält. Daraufhin schrieben Premier Xavier Bettel und Corinne Cahen, gegebenenfalls auf das Angebot zurückzukommen. Gegenüber Radio 100,7 präzisierte Cahen indes, das Vorhaben sei derzeit „nicht der erste Punkt auf der Tagesordnung“.

Dabei reißen die Kritiken an Cahens Krisenmanagement nicht ab. Inzwischen kritisieren sogar Heimleiter offen die Empfehlungen trotz Ampelsystem als „konfus“. Corinne Cahens lapidare Antwort auf die Frage, ob ihr Ministerium nicht hätte präzisere Vorgaben machen müssen: „Dafür gibt es ja Direktionen.“ Sie könne nicht bei privaten Trägern eingreifen. Allerdings: Die meisten Heime sind konventioniert, und es gibt Träger, die fordern selbst, neben medizinischen und technischen Vorgaben auch soziale Mindeststandards verbindlich festzulegen. Inzwischen regt sich leise Widerspruch aus der Koalition: Die LSAP-Abgeordnete Simone Asselborn-Bintz verlangte, „verschiedene Empfehlungen zu zentralisieren“. Die Grüne Josée Lorsché plädierte für ein „Monitoring und eine Informationspflicht“, was das Krisenmanagement in den Häusern und die Entwicklung der Infektionen und Sterbefälle angeht. Es fehle an Statistiken.

Delegierte Verantwortung Mit ihrer Abwehrhaltung ist die DP-Ministerin nicht allein; Cahen ähnelt darin ihrem Parteikollegen Claude Meisch: Beim Erziehungsminister sind es die (öffentlichen) Schuldirektionen, die lange allein entscheiden mussten, ob sie Schutzmaßnahmen verschärfen oder nicht. Die Verantwortung an andere zu delegieren, heißt indes, Verantwortung an Private auch dafür abzuwälzen, ob Grundrechte gewährleistet sind – oder eben nicht. Für Cahen ist eine grundsätzliche Infragestellung des bisherigen Ansatzes jedenfalls derzeit nicht geboten.

Umso präsenter ist sie auf den sozialen Netzwerken, postet Bilder von Stippvisiten und Wanderungen – so entrückt scheint sie dem Politikbetrieb mitunter, dass ihr nicht einmal auffällt, dass das Liken einer französischen TV-Sendung, die zu Shopping und Erkundungstouren ins beschauliche Luxemburg einlädt, vielleicht kein opportunes Zeichen ist in einer Zeit, in der Infektionszahlen auf beunruhigend hohen Niveau sind und das Gesundheitspersonal seit Monaten am Limit arbeitet.

Der Premier kann kein Fehlverhalten erkennen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Xavier Bettel schützend vor die Parteikollegin und DP-Parteichefin stellt: Zuletzt musste er für sie öffentlich in die Bresche springen, als Cahen sich im Herbst 2019 beim Geschäftsverband wegen der Trambaustelle beschwerte, per E-Mail vom Ministerium. Der Ethikrat hob mahnend den Finger, Cahen ruderte zurück, halbherzig: An ihrem Einsatz für die Geschäftswelt als Ministerin konnte sie nichts Schlimmes finden. Sie stehe zum Geschriebenen, so Cahen auf Facebook.

Talent für Fettnäpfchen Unvergessen die diplomatische Krise, die Cahen lostrat, als sie einen Post likte, in dem eine Lehrerin Portugiesisch im Klassensaal untersagt hatte, dies von Medien in Portugal aufgegriffen wurde und für empörte Schlagzeilen sorgte. Die Ministerin zeigte damals wenig Einfühlungsvermögen; und nicht nur da: Ähnlich war es bei der Diskussion um Inklusion oder um strukturellen Rassismus hierzulande. Im Sommer hatte Cahen von „totaler Inklusion“ gesprochen und behauptet, das, was für alle Leute in punkto Lockdown gelte, gelte auch für die Leute im Behindertenbereich. Inzwischen hat sie zugegeben, dass die Bewohner/innen in Behinderteneinrichtungen oft rigoroser und länger von der Außenwelt abgeschottet waren als die in den Altersheimen.

Worte statt Taten Ende 2018 kam die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zu dem Ergebnis, dass sich hierzulande erschreckend viele Menschen mit afrikanischer Abstammung diskriminiert sehen. Nicht nur, dass Cahen zunächst die Zahlen öffentlich anzweifelte. In einer Podiumsdiskussion mit dem Direktor der Agentur im Herbst 2019 zeigte sie sich schockiert darüber, dass rassistische Vorurteile noch so hartnäckig verbreitet seien. Bis eine Zuhörerin schließlich sichtlich genervt aufstand und die Ministerin fragte: „Seit ich vor 15 Jahren zur Schule ging, hat sich nichts verbessert. Wo waren Sie die ganzen letzten Jahre?“

Und die politische Antwort seitens ihres Ministeriums und der Regierung auf den strukturellen Rassismus seitdem? Im Juli verabschiedete das Parlament eine Motion, laut der die Antidiskriminierungsstelle CET mehr Mitteln erhalten solle (das CET fordert zudem das Recht, vor Gericht stellvertretend klagen zu können); ein Dauerbrenner, der während der sieben Jahre, die Corinne Cahen zuständige Ministerin ist, längst gelöst werden können. In einem Tageblatt-Interview beschrieb Cahen ihre Mission selbst so: „zusammen mit unseren Partnern die Diskriminierung mit allen Mitteln zu bekämpfen“. Aber außer einer Absichtserklärung und einer weiteren Motion, strukturellen Rassismus untersuchen zu lassen, ist dabei bisher nichts Konkretes herausgekommen.

Beim Blick auf die geleistete Arbeit der Familien-, Senioren-, Integrations- und Großregionsministerin fällt auf, dass Cahen in den vergangenen anderthalb Jahren keine größeren inhaltlichen Akzente zu setzen vermochte. Die Revis-Reform ist in trockenen Tüchern, der flexibilisierte Elternurlaub ist ein Erfolg – aber der liegt einige Zeit zurück. Andere Themen, die seit Jahren einer Lösung harren, wie eine wirksame Bekämpfung sämtlicher Formen von Diskriminierungen, kommen nicht so recht vom Fleck.

Vielleicht kursieren deshalb Gerüchte, Cahen sei amtsmüde und wolle lieber Bürgermeisterin in der Hauptstadt werden. Parteikollegin Simone Beissel, Hauptstadtschöffin, wischt derlei Spekulationen jedoch mit einem Lachen beiseite: „Unmöglich ist nichts, aber das ist kein Thema.“ Man habe im Schöffenrat reichlich Arbeit, die amtierende Bürgermeisterin Lydie Polfer sei „in bester Form“. Zudem müsste Cahen dann vorzeitig vom Amt als Ministerin zurücktreten. Ob sie das Risiko eingehen wolle? Ginge es nach ihrem Bekanntheitsgrad, könnte Corinne Cahen sich Hoffnung als Kandidatin im Rennen machen: In rezenten Beliebtheitsumfragen unter Erstwählenden erzielte sie einen respektablen siebten Platz.

Ines Kurschat
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