Ob die CSV der nächsten Regierung angehören wird

Weitgehend informell

Bei der Vereidigung von Premier Xavier Bettel (DP) 2013
Foto: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land vom 17.08.2018

Auf den ersten Blick scheinen die Wahlen vom 14. Oktober keine gewöhnlichen Wahlen. Denn bei gewöhnlichen Wahlen, wie sie seit Jahrzehnten stattfinden, stellt sich niemand die Frage, ob die CSV in die Regierung kommen und den Premierminister stellen wird. Das wird dank generationenlanger Erfahrung als Selbstverständlichkeit angesehen: In den seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts verstrichenen hundert Jahren gehörte die frühere Rechtspartei und heutige CSV 26 Mal der Regierung an und stellte 26 Mal den Premierminister. Nur dreimal stellte eine andere Partei den Regierungschef.

Also wird nun vielerorts darüber gerätselt, ob die CSV im Herbst wieder der Regierung angehören und den Premier stellen wird oder ob DP, LSAP und Grüne weitermachen werden. Unabhängig davon, ob DP, LSAP und Grüne noch über ein gemeinsames politisches Projekt verfügen, hängt die Zukunft ihrer Dreierkoalition selbstverständlich davon ab, ob sie ihre parlamentarische Mehrheit behalten werden. Da ihre Mehrheit denkbar knapp ist, darf keine der drei Parteien ein Mandat verlieren. Die DP/LSAP-Koalition der Siebzigerjahre verfügte ebenfalls über eine Mehrheit von zwei Mandaten und geriet in Gefahr, erpressbar zu werden, als der Abgeordnete Jean Gremling sich aus der LSAP verabschiedete.

Doch selbst wenn DP, LSAP und Grüne eine Mehrheit behalten, könnte ihnen noch die Prozedur im Weg stehen, nach der Regierungen hierzulande gebildet werden. Denn weil in Luxemburg ein im Vergleich zu vielen anderen Staaten strenges Verhältniswahlrecht herrscht, gelingt es kaum einer Partei, eine absolute Mehrheit im Parlament zu erzielen und alleine zu regieren. Bisher regierte nur einmal eine Partei mit absoluter Mehrheit, die Rechtspartei unter Staatsminister Emile Reuter von 1921 bis 1925. Deshalb spielt hierzulande die Prozedur zur Regierungsbildung ein wenig die Rolle des Mehrheitswahlrechts in anderen Ländern.

Diese Prozedur ist sicherheitshalber nirgends festgehalten. Obwohl die Bildung einer Regierungskoalition ein politischer Schlüsselmoment ist, schweigt sich die Verfassung darüber aus, von wem und wie eine Regierung gebildet wird. In den Artikeln 76 und 77 heißt es lediglich ganz allgemein: „Le Grand-Duc règle l’organisation de son Gouvernement, lequel est composé de trois membres au moins“ und „[l]e Grand-Duc nomme et révoque les membres du Gouvernement“.

Dass die Verfassung die Regierungsbildung mit einer schwammigen Floskel dem Großherzog überlässt, könnte man auf den autoritären, obrigkeitsstaatlichen Charakter der Verfassung aus dem 19. Jahrhundert zurückführen. Doch der vor drei Monaten fertiggestellte Entwurf zu einer Gesamtrevision der Verfassung, die nunmehr modern und demokratisch werden soll, schweigt sich ebenfalls über die Prozedur der Regierungsbildung aus. In den Artikeln 86 und 87 soll es lediglich heißen: „Le Gouvernement dirige la politique générale de l’Etat“ und „[l]e Gouvernement se compose d’un Premier ministre, d’un ou de plusieurs Vice-­premiers ministres, de ministres et, le cas échéant, d’un ou de plusieurs secrétaires d’Etat. Le Chef de l’Etat nomme le Premier ministre et les autres membres du Gouvernement et met fin à leurs fonctions“.

Auffällig ist, dass die aktuelle und die geplante künftige Verfassung nicht einmal einen Zusammenhang zwischen dem Ausgang der Wahlen und der Bildung einer Regierung herstellen. Laut Revisionsentwurf soll es künftig in Artikel 89 heißen: „Le Premier ministre engage la responsabilité du nouveau Gouvernement à l’occasion de la présentation du programme gouvernemental devant la Chambre des Députés“, so dass wenigstens festgehalten werden soll, dass die Regierung über eine Mehrheit im Parlament verfügen müsste. Aber weiter soll die Verfassung nicht gehen.

Im Artikelkommentar des parlamentarischen Ausschusses der Institutionen und Verfassungsrevision zur geplanten Revision heißt es lakonisch: „L’article 77 actuel de la Constitution prévoit que ‚Le Grand-Duc nomme et révoque les membres du Gouvernement‘. Ce pouvoir de nomination et de révocation est largement formel. Le Grand-Duc se limite en réalité à désigner un formateur (désigna­tion parfois précédée par celle d’un informateur) du Gouvernement qui sera, en règle générale, le futur Premier ministre. Or, on peut estimer que la phase précédant la formation du Gouvernement n’a pas sa place dans la Constitution.“

Selbstverständlich lässt sich auch das Gegenteil rechtfertigen: Dass gerade etwas politisch Entscheidendes wie die Bildung einer Regierungskoalition ihren Platz in der Verfassung haben muss, um eine demokratische und transparente Prozedur zu gewährleisten. Die Prozedur der Regierungsbildung auch künftig im Ungewissen zu lassen, ist demnach eine politische Entscheidung, um eine demokratische und transparente Verfahrensweise zu verhindern. So wie die Verfassung selbst bis in die jüngste Zeit überholt und anachronistisch sein sollte, um der Regierung, ganz nach Interessenlage, bald eine wörtliche, bald eine metaphorische Exegese zu erlauben, so erlaubt die nebelhafte Prozedur zur Regierungsbildung, bald die eine, bald die andere Begründung, um immer dasselbe Ziel zu rechtfertigen.

Wenn laut parlamentarischem Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision das Vorrecht des Großherzogs, die Regierung zu ernennen, weitgehend formell ist, nur äußerlich, dem Anschein genügend, dann gibt es wohl auch eine ausschlaggebende informelle Prozedur. So weit sie zu erkennen ist, gehört dazu, dass der Großherzog im Anschluss an die Kammerwahlen einen Formateur oder Informateur ernennt. Diese Funktionen nach belgischem und niederländischem Vorbild haben keine verfassungsrechtliche oder sonstige rechtliche Grundlage, stellen aber eine Vorentscheidung über den künftigen Premierminister dar. Somit räumen sie dem für seine sehr konservativ-katholischen Vorstellungen bekannten Monarchen einen weiten politischen Spielraum ein. Nach ihrem Besuch beim Großherzog 2013 erzählten verschiedene Parteivertreter, dass das Staatsoberhaupt sich über die Aussicht einer Regierung ohne Beteiligung der christlich-konservativen Partei besorgt um die Stabilität gezeigt habe, so als wäre es nicht gerade die CSV mit ihrem Geheimdienstskandal gewesen, die eine Regierungskrise verursacht hatte.

Sieht man sich die Praxis der Regierungsbildung in den letzten hundert Jahren an, läuft diese informelle Prozedur darauf hinaus, dass der Großherzog regelmäßig den Spitzenkandidaten der Rechtspartei/CSV zum Formateur ernannte und damit beauftragte, sich einen Koalitionspartner auszuwählen, ein Koalitionsabkommen auszuhandeln und Minister und Staatssekretäre auszusuchen. Nur wenn mit Meinungsverschiedenheiten unter den anderen Parteien über die Entscheidung des rechten Spitzenkandidaten oder gar über dessen Berufung zum Premierminister zu rechnen war, beauftragte der Großherzog zuerst einen Informateur, um sich die ins Parlament gewählten Parteien anzuhören. Der Informateur sollte die Entscheidung des Großherzogs rechtfertigen, den Spitzenkandidaten der Rechtspartei/CSV zum Formateur und anschließend zum Premierminister zu ernennen, wenn er es nicht gleich selbst war.

Die Geschichte der Regierungsbildungen zeigt, dass die Rechtspartei/CSV seit hundert Jahren jedes Mal den Premierminister stellen durfte, ganz gleich, ob sie die Wahlen gewonnen oder verloren hat, offenbar weil sie die stärkste Partei ist. Für die anderen Parteien gilt dagegen das umgekehrte Prinzip: Koalitionspartner der stärksten Partei wird nicht die zweitstärkste Partei, seit Kriegsende meist die LSAP, zweimal die DP, sondern jene Partei, die am meisten Sitze gewann oder zumindest am wenigsten Stimmen verlor. Dieses Prinzip wurde seit dem Ende des Kriegs zwölfmal angewandt, missachtet wurde es lediglich 1948, 1989, 1994 und 2009.

Gälte für die CSV das gleiche Gewinnerprinzip wie für ihre Koalitionspartner, dass Wahlverlierer in die Opposition sollen, wäre sie seit Kriegsende sieben Mal in die Regierung gekommen, weil sie die Wahlen gewonnen hatte, und neunmal in die Opposi­tion, weil sie die Wahlen verloren hatte. Doch sie stellte in diesen mehr als 70 Jahren bloß zweimal nicht den Premierminister, weil sie nach der Wahlniederlage von 1974 darauf verzichtete und weil nach dem Sturz des CSV-Premiers 2013 andere Parteien eine Koalition ohne sie bildeten.

Die CSV ist seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts die stärkste Partei. Allerdings erhält sie seit Jahrzehnten lediglich ein Drittel der Stimmen. Die informelle Prozedur der Koalitionsbildung mit der Ernennung ihres Spitzenkandidaten durch den Großherzog zum Formateur, der sich abwechselnd einen Koalitionspartner aussucht, verwandelt ihre relative Mehrheit bei den Wahlen in eine politisch absolute Mehrheit und sichert ihr eine hegemoniale Stellung auf Kosten von zwei Dritteln der Wähler. Dadurch wird eine konservative Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse gewährleistet, die die Rechtspartei/CSV 1925 und 2013 vernachlässigt und 1974 überstrapaziert hatte.

Im Herbst 2013 hatten die schwungvollen jungen Männer von DP, LSAP und Grünen über Nacht vollendete Tatsachen geschaffen, um zu verhindern, dass der Großherzog wieder den Spitzenkandidaten der CSV zum Formateur oder Informateur ernannte. Denn anders als 1974 hatte die CSV nach ihrer Wahlniederlage 2013 nicht auf eine Regierungsbeteiligung verzichtet. Als die Wahlsieger Koalitionsverhandlungen ohne die CSV aufnahmen, versuchte der Großherzog, das Heft wieder an sich zu reißen und ernannte ohne rechtliche Grundlage den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs, ­Georges Ravarani, zum Informateur. Aber der konnte nur ausrichten, dass die Würfel bereits gefallen waren. Dass die informelle Prozedur, mit der der Großherzog den Spitzenkandidaten der CSV regelmäßig zum Formateur und Premierminister ernennt, nicht angewandt wurde, stellten die CSV und ihre Presse monatelang als einen verkappten Staatsstreich dar.

2013 waren die meisten Wähler damit einverstanden, dass die CSV nicht in die Regierung kam, weil sie sich durch die Regierungskrise desavouiert hatte. Doch sie haben die informelle Prozedur der Regierungsbildung als scheindemokratisches Gewohnheitsrecht so verinnerlicht, dass ohne diese außergewöhnlichen Umstände eine weitere liberale Koalition unter Ausschluss der CSV politisch nur sehr schwer durchsetzbar sein wird, wenn die CSV stärkste Partei bleibt. Damit wären die Wahlen am 14. Oktober wieder gewöhnliche Wahlen.

Romain Hilgert
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