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d'Lëtzebuerger Land du 08.10.2021

In der Herbstsonne glitzern die Glasscherben. Es müssen Tausende sein, in unterschiedlichen Formen und Größen. Sie ziehen sich über den steinigen Wüstenboden, von Fenster zu Fenster, hinein in die kleine Moschee des palästinensischen Dorfes Khirbat al-Mufkara im Westjordanland südlich der Stadt Hebron. Wenige Meter von der Moschee entfernt, im Haus der Familie Hamamda, liegt das Glas noch Tage nach dem Angriff unberührt, geputzt hat hier niemand. Mittendrin ein Paar schwarze Kinderschuhe und ein Spielzeugauto. Auf einer schmalen geblümten Matratze sitzt Baraa Hamamda auf dem Boden neben den Scherben. Ihre von der Sonne gebräunten Hände hat die dreifache junge Mutter ineinander gefaltet, lässt immer wieder nervös ihre Finger knacken. Blickkontakt weicht sie aus. Stattdessen breitet sie als Tatbeweis sorgfältig ein Handtuch und einen kleinen Pullover auf dem Boden aus. Das Blut auf dem Stoff ist längst getrocknet, beinahe schwarz ist es nun.

Als die Nachricht von den ersten Angriffen nach Mufkara drang, war Baraa mit anderen Dorfbewohner/innen zu den Ziegen gelaufen. Siedler hätten drei Tiere aufgeschlitzt, hieß es. Erst später wird ihnen klar, dass die Tötung der Ziegen ein Ablenkungsmanöver gewesen war: während sich das 100 Seelen zählende Dorf um den Hirten versammelt, umstellen Dutzende Bewohner der angrenzenden israelischen Siedlungen Avigail und Havat Maon das Dorf. Wie viele es genau sind, kann niemand sagen. Etwa 50, vielleicht auch 80. Ihre Oberkörper sind nackt, mit Hemden maskieren die Angreifer ihre Gesichter. Bewaffnet mit Steinschleudern, Schlagstöcken und Messern gehen sie von Tür zu Tür. Sie zerschlagen Fenster, zertrümmern Autoscheiben, Solaranlagen und Wasserspeicher. Im Haus der Familie Hamamda hält der dreijährige Mohammed seinen Mittagsschlaf. So schnell sie kann, rennt Baraa zurück. Ihre Schwägerin hat alle zwanzig Kinder der Großfamilie in einem Raum versammelt, gemeinsam ducken sie sich zum Schutz vor den Steinbrocken. Die jüngeren Männer schlagen draußen mit Steinen zurück. „Aber es war unmöglich, auf einen von uns kamen fünf von ihnen“, beschreibt ein Dorfbewohner die Situation am nächsten Tag. Als kurz nach Beginn der Attacke die israelische Armee in ihren Jeeps eintrifft, beobachten die Soldat/innen das Szenario zunächst. Dann gehen sie mit Tränengas gegen die Steine werfenden Palästinenser vor. Den Siedlern sind Soldat/innen stille Komplizen, das ist im Dorf kein Geheimnis. Verletzt werden schließlich zwölf Palästinenser und drei Siedler. Wenige Stunden später werden die Streitkräfte Medien gegenüber eine Aussage zu dem Vorfall verweigern.

Die Angriffe häufen sich „Immer noch denke ich: Das kann nicht sein, das war nicht mein Kind, das da blutüberströmt und ohnmächtig neben einem riesigen Steinbrocken vor mir lag. Alles ist immer noch surreal“, erzählt Baraa zwei Tage nach der Attacke. Bis der Krankenwagen das Dorf verlassen konnte, verging fast eine Stunde. „Wir liefen zuerst zum Armeejeep. Der Krankenwagen wartete auf der Hauptstraße. Die Siedler sprinteten dem Jeep hinterher und schlugen auf meinen Schwager ein, der Mohammed im Arm hielt. Sie schrien‚ das sind Araber, ihr sollt ihnen nicht helfen!“. Bis das Kind mit Schädelbruch und inneren Blutungen ins nächstgelegene Krankenhaus in der israelischen Stadt Beer Sheva eingeliefert wird, vergeht eine gefühlte Ewigkeit. Seitdem hat Baraa ihren Sohn nicht mehr gesehen. Noch nie waren die beiden so lange getrennt voneinander. Eine Genehmigung, nach Israel einzureisen, haben weder sie noch ihr Mann. Mohammeds Onkel, der eine Arbeitserlaubnis hat, ist rund um die Uhr bei ihm und schickt der Familie Videos. Sein Zustand ist stabil, nur essen will der Junge nicht.

Der Angriff auf Mufkara ereignete sich am jüdischen Feiertag Simchat Torah. Das Territorium, in dem beide Volksgruppen, Palästinenser und Siedler, nebeneinander leben und das über 60 Prozent des Westjordanlands ausmacht, nennt sich seit dem Oslo-Friedensprozess der Neunzigerjahre Zone C. Für jüdische Siedler/innen und Palästinenser/innen gelten hier auf demselben Gebiet unterschiedliche Rechtsordnungen. Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 steht es unter israelischer Militärverwaltung. Heute leben in Zone C fast eine halbe Million Siedler/innen in Siedlungen, die gemäß des Völkerrechts als illegal gelten. Sie haben Außenposten errichtet. Diese sind auch nach israelischem Recht illegal. Trotzdem sind diese Außenposten an die Infrastruktur im Landesinneren angeschlossen. Dazu zählen auch Avigail und Havat Maon, aus denen die Angriffe auf das Dorf Mufkara kamen. Das Dorf liegt zwischen den beiden Siedlungen und verhindert so deren territoriale Kontinuität.

In den vergangenen Monaten häuften sich die Übergriffe der Siedler auf palästinensische Dörfer in der Hügellandschaft von Masafer Yatta vor allem am Shabbat, dem jüdischen Ruhetag. Sie bewerfen Dorfbewohner/innen mit Steinen, schneiden ihre Bäume ab, legen Feuer. Laut der israelischen Zeitung Haaretz wurden in der ersten Jahreshälfte 2021 416 Akte von Gewalt und Vandalismus gegen Palästinenser/innen im Westjordanland dokumentiert, einige davon als Racheakte. 2019 waren es aufs ganze Jahr gerechnet 363 gewesen. Erklärt wird diese Entwicklung mit der Haltung der israelischen Armee, die die Übergriffe mit einer Laisser-Faire-Haltung hinnimmt. Fast immer kommen die Unruhestifter ungestraft davon. Kurz nach dem Angriff auf Mukfara schrieb die Journalistin Amira Hass, die Attacke auf das Dorf diene dem langfristigen politischen Ziel einer schleichenden Annexion: der Staat wolle die Menschen aus ihren Häusern verdrängen.

In Gesprächen zwischen israelischen und palästinensischen politischen Aktivist/innen in den Dörfern fallen immer wieder die Namen zweier Männer, die als Drahtzieher der Attacke vermutet werden. Sie rätseln, ob die Angreifer gar bezahlt wurden – wahrscheinlich ist, dass sie aus anderen Siedlungen zu Besuch kamen und ihnen in Avigail und Havat Maon während der Feiertage Kost und Logis zur Verfügung gestellt wurde. Offiziell waren sie dort als Freiwillige, um den jüdischen Schafhirten zu helfen. „Die Jüngsten von ihnen sind minderjährig, die Ältesten Ende 20. Sie betrinken sich, singen jüdische Lieder und werden gewalttätig. Aber dieses Mal waren das keine spontanen Randalierer, das war sorgfältig geplant.“ Darin ist sich der palästinensische Journalist und Fotograf Basil al-Adraa aus dem benachbarten Dorf Tuwani sicher.

3 000 Follower In den 1980-er Jahren erklärte die israelische Regierung die Gegend um Masafer Yatta, Basils Zuhause, zur sogenannten Feuerzone 918, einer Truppenübungszone für die Armee. Die Feuerzone umfasst zwölf palästinensische Dörfer. 1999 evakuierte man Hunderte Bewohner/innen aus ihren Zelten und brachte sie auf Lastwagen in die nächstgelegene Stadt Yatta. Sie lebten „illegal“ in einer Feuerzone, hieß es. Zwar durften die Dörfer nach Klagen am Obersten Gerichtshof wiedererrichtet werden, bis heute verwehrt Israel ihnen die Anbindung zu jeglicher Infrastruktur wie Wasser und Elektrizität. Die provisorisch gebauten Häuser und die zum Leben notwendigen Wasserzisternen und Stromnetze werden von der Armee immer wieder zerstört, da sie als illegal gelten. Laut der israelischen Zeitung Haaretz belegen Regierungsdokumente von 1979, dass die Regierung die Feuerzone errichtete, um das natürliche Wachstum der Dorfbevölkerung zu verhindern.

Als die Nachricht von den Angriffen auf Mufkara Basil erreicht, stürmen er und sein Freund, ein linker israelischer Aktivist, gemeinsam mit ihren Kameras zum Dorf. Dort versuchen sie, die Ereignisse zu dokumentieren. Die Kamera wackelt, im Hintergrund sind Schreie zu hören. Nach wenigen Minuten richtet ein Soldat sein Maschinengewehr auf ihn und brüllt ihn an, mit dem Filmen aufzuhören. „Ich bin Fotograf und das hier ist mein Zuhause“, ruft Basil zurück. Sie drohen ihm, er rennt, eine Schar von Siedlern folgt ihm dicht auf den Fersen. Er ist schneller. Tagelang brennen seine Muskeln von dem Sprint, die Nacht nach der Attacke verbringt er schlaflos. Zu hoch ist sein Adrenalin. Trotzdem glaubt Basil aus pragmatischen Gründen an gewaltlosen palästinensischen Widerstand. „Alles andere spielt Israel nur zu. Die freuen sich doch, wenn wir gewalttätig sind.“

Beinahe 3 000 Follower hat der 25-Jährige auf Instagram. Seine Posts sollen der Welt von der Gewalt und den Vertreibungsversuchen der israelischen Regierung in Masafer Yatta erzählen: während ihre jüdischen Nachbarn in den Siedlungen unbegrenzten Wasserzugang haben und wachsen dürfen, wird palästinensischen Familien in Massafer Yatta das Notwendigste verwehrt. Sein Videomaterial soll als Beweis dienen, die Angreifer zur Verantwortung zu ziehen. Er filmt dort, wo es brennt.

Um die Gewalt besser dokumentieren zu können, wurden palästinensische Aktivisten von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem mit hochwertigen Kameras ausgestattet. „Mit dieser Kamera kann ich sehen, was die Siedler zu Abend essen und ob es koscher ist“, witzelt Ali, ein Aktivist aus der Gegend. Zwei Tage nach der Attacke sitzen Basil, Ali und ihre israelischen Freunde gemeinsam auf einem Aussichtsposten in der Hügellandschaft. Es ist die Ruhe nach dem Sturm. Auf ihren Handys klicken sie sich schweigend durch Instagram, jemand dreht eine Zigarette. Gelegentlich lachen alle über Alis schwarzen Humor. Durch ihre Kameralinsen versuchen sie parallel die Standorte der Siedler und Soldaten zu identifizieren – sie fürchten weitere Gewaltausbrüche. Aber es bleibt still.

Auf dem Polizeirevier Kurze Zeit später, es dämmert schon, kommt der Anruf. Die israelische Polizei hat Mahmoud Hamamda, den Großvater des verletzten Mohammeds, zur Zeugenaussage auf das Polizeirevier einberufen. Heute noch soll er kommen. Plötzlich muss alles schnell gehen. Die geschossenen Beweisvideos werden von der Speicherkarte auf den Computer übertragen. Innerhalb weniger Minuten sitzt Mahmoud gemeinsam mit den Aktivisten im Jeep – vielleicht, hoffen sie, wird es dieses Mal anders. Vielleicht werden die israelischen Behörden endlich jemanden bestrafen.

Mit seiner weißen Kufiya und seinem langen schwarzen Gewand steht der 67-jährige Mahmoud schließlich im Dunkeln am Eingang des Reviers. Stacheldraht umzäunt das Gebäude von allen Seiten. Auf seinem Arm prangt eine Wunde, das Blut halbgetrocknet. Auch ihn hat ein Steinbrocken getroffen. „Was macht ihr hier so spät?“, fragt der Sicherheitsmann. Als Mahmoud ihm erklärt, dass er von der Polizei angerufen und für eine Zeugenaussage aufs Revier gebeten wurde, starrt dieser ihn gelangweilt an, dann greift er nach seinem Handy. Nach einem kurzen Telefonat verkündet er: „Wir haben deine Nummer nicht im System gefunden, niemand hat dich angerufen“. Mahmoud beharrt auf sein Recht, lässt sich nicht abwimmeln. Schließlich wird ihm befohlen, vor dem Polizeirevier zu warten. Wie lange, kann niemand sagen. „Wir haben den ganzen Tag Beschwerden hier, meinst du, du bist der Einzige, dem was nicht passt?“ Unbeirrt von der erniedrigenden Situation findet der alte Mann schließlich einen aus Plastik geflochtenen bunten Gebetsteppich und kniet wenige Meter neben dem Polizeirevier zum Abendgebet nieder.

Nach über einer Stunde darf Mahmoud schließlich durch die Gittertür auf das Polizeirevier eintreten. Als er zurückkommt, strahlt er fast. Nett seien sie gewesen, erzählt er. Er habe ihnen das Videomaterial überreicht und die Namen der Unruhestifter genannt. Mohammeds Eltern dürften ihn morgen im Krankenhaus besuchen, darum werden sich die Behörden kümmern. Sechs Siedler wurden festgenommen. Tatsächlich sieht es dieses Mal so aus, als würde man die Täter nicht ungeschoren davonkommen lassen – zu groß ist der Aufschrei in der israelischen Öffentlichkeit.

„Ich schäme mich!“ Shealtiel Zik, Sekretär in der Siedlung Avigail zögert zunächst, mit der Presse zu sprechen: zu ungerecht sei die mediale Berichterstattung. Aber dann bricht es doch aus ihm heraus: Man stelle die Menschen in Avigail als Verrückte dar, dabei seien es ganz normale jüdische Familien. Niemand in Avigail würde diese Gewalt gutheißen – die Angreifer waren Jugendliche, die über die Feiertage zu Besuch kamen. Sie hätten zu viel getrunken, die Situation geriet außer Kontrolle – man hätte sie provoziert. Dass auch Araber in Mufkara jüdische Menschen mit Steinen angriffen, das würden die Medien nicht zeigen.

Am Tag nach Mahmouds Zeugenaussage auf dem Polizeirevier werden vier der sechs Tatverdächtigen freigelassen, zwei Minderjährige müssen weiterhin in Haft bleiben. Mohammed wird am Abend aus dem Krankenhaus entlassen. Seine Eltern dürfen ihn abholen.

Am Samstag, vier Tage nach dem Angriff aufs Dorf, kommen 400 Israelis und Palästinenser/innen nach Masafer Yatta zum gemeinsamen Protest. Mit einem Marsch zwischen den Dörfern bekunden sie den Familien in Mufkara ihre Solidarität und machen darauf aufmerksam, dass Palästinenser/innen in diesem Gebiet von Wasserquellen abgeschnitten sind. Einige von ihnen haben sich mit schwarzem Marker I am ashamed (Ich schäme mich) auf die Handflächen geschrieben. Suhad, Mohammeds Onkel, hält den Jungen auf dem Arm. In seinen kleinen Händen hält Mohammed eine große palästinensische Flagge. Baraa nimmt nicht an der Demonstration teil. Aber als nach dem Protest Journalist/innen in ihrem Haus einlaufen, lächelt sie breit und erzählt von ihrem Glück: das Kind ist zurück. Zum ersten Mal hat es wieder anständig gegessen.

Marina Klimchuk
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