Im Anfang war der Blick

Stimmenflimmernde Wortbildreise

d'Lëtzebuerger Land du 07.11.2002

Am Ende jagen unaufhörlich Wolken über einen verdunkelten Himmel. Namen flimmern über das Blau. Schwebende Musik versetzt in leichte Trance-Stimmung. Fast meditativ klingt Im Anfang war der Blick aus, der Abspann wird zu einem Zwischenraum, nicht mehr ganz Film, aber noch nicht ganz die wirkliche Welt - ein sanftes Auftauchen wie ein langsames Erwachen aus einem verwirrenden Traum. Bady Minck schickt in ihrer neuen Filmarbeit die Zuschauer auf eine rasante, überraschende Reise. Zuerst ist da Dunkel. Schweres Atmen. Plötzlich Licht - ein Auge öffnet sich, und unvermittelt findet sich der Zuschauer an der Innenseite des atmenden Unbekannten, blickt durch das geöffnete Auge in eine fremde Wohnung.

Bücher. Zettel überall mit Notizen, Wörtern, Satzfragmenten: Eine Welt des Wortes, bewohnt von einer schwarz gekleideten Gestalt mit kahlem Schädel und schmaler Brille. Bodo Hell, der österreichische Dichter, ist dieser Bewohner der Worte, der an drei Schreibmaschinen gleichzeitig tippt, durch den Spiegel tritt, suchend die Regalwände entlang wandert. Er wählt ein Buch, dessen Titel erst erscheint, als er es aus dem Regal nimmt: Im Anfang war der Blick. Flugs treten dem Schriftsteller der Evangelist und Goethes Faust imaginär zur Seite, und als ihm aus den leeren Seiten des Buches plötzlich ein Berg entgegen wächst, nimmt er das Rennen auf: Was war nun im Anfang, wenn weder Wort noch Tat?

Was ist dran am Blick, scheint sich der Schriftgelehrte zu fragen und macht sich auf, die Welt außerhalb der Dichterklause zu erkunden. Durch Postkarten tritt er seine Reise an, und während er sich, mit irritierend stockendem Gang in einer immergrünen Österreich-Idylle bewegt, begleiten ihn flüsternd Stimmen, die an sein eigentliches Reich erinnern: wie akustische Irrlichter flackert ein poetisches Wortgewirr auf, verdichtet sich zum testamentarischen Dogma, verliert sich in Musik, verästelt sich in assoziativen Sprachspielen und gibt der Rückseite der Bilderwelt eine Stimme. An jenen Orten, an denen sich das Klischee-Österreich beispielhaft zeigt, versucht der Wortmensch, die Landschaft zu durchdringen. Einmal winkt er auf der historischen Großglockner-Straße einem Oldtimer, ihn mitzunehmen, einmal erkundet er von einer Aussichtsterrasse aus das strahlend verschneite Alpenpanorama, einmal muss er sich mit der Stummheit einer unbekannten Schönheit im Salzburger Mirabell-Garten abfinden.

Man muss sich der Wörtlichkeit im Bild und der Bildhaftigkeit der Worte, mit der Minck spielt, voll überlassen, um dieser skurril-poetischen Reise zu folgen. Die Künstlerin arbeitet mit assoziativen Bezügen, mit der Wörtlichkeit der Dingwelt und mit Analogien. Wenn sich der Dichter die Landschaft einverleiben will, versucht er, den aus dem Buch wachsenden Berg in seinen Kopf zu drücken. An anderer Stelle wächst diese Landschaft wieder aus ihm heraus, auf seiner Zunge fährt eine Straßenbahn, aus seinem Kopf bildet sich der Großmugl, ein keltischer Grabhügel in Niederösterreich. Witzig und verblüffend, manchmal vordergründig und dabei tiefsinnig scheinen diese Trickbilder und lassen stets einen Bezug zum eigentlichen Ausgangspunkt herstellen.

Der lag in der Wissenschaft, im interdisziplinären Projekt Kulturlandschaftsforschung. Aus diesem Projekt, an dem Forschergruppen aus 30 Fachgebieten zum Thema Nachhaltigkeit arbeiten, holte sich Bady Minck Anregungen von den Modulen "Kulturlandschaft im Kopf", "Bergbau-Folgelandschaften" und "Landschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten". Von der "Landschaft im Kopf" kam sie zur Postkarte als inszeniertes Selbstbild Österreichs in verflachter Form, die sie mit Trickaufnahmen entmystifiziert: Überblendungen vergleichen die reale Landschaft mit dem idealisierten Postkartenbild, auf dem alles sauber gekehrt, die Häuser renoviert und die Wiesen grün sind und wo immer die Sonne scheint. "Lüge"! sagt die nächste Einstellung, in der Regen die Menschen vom Fest am historischen Dorfplatz vertreibt. "Lüge!" schreit es auch von der Rückseite der Karte, wenn "mit herzlichen Grüßen" von Dauerregen und Unfällen die Rede ist.

Eine Zeitreise in historische Ansichten dokumentiert anhand des steirischen Erzbergs den Raubbau, den der Mensch an der Natur betreibt. In Salzburg wiederum zeigt ein Vergleich die Bemühungen, die Andenken an die Nazi-Vergangenheit auszublenden und per Baubestimmungen die Mozartzeit zu beschwören. Das Rennen Wort gegen Bild geht bei Minck klar für das Bild aus, und doch behält sie durch die Aufnahmetechnik die nötige Distanz: Einzelbildaufnahmen, die Bodo Hells Bewegungen irreal zergliedern, Mehrfach-Überblendungen, die das Gesehene gleich wieder in Frage stellen und die ungewöhnliche Verbindung zur Sprache, die selbst als musikalisches Element eingesetzt und von Cutter Frédéric Fichefet zu einer rasanten Wort-Bild-Komposition gefügt wird, machen Im Anfang war der Blick zu einem Stück Kino, das Erwartungen und Gewohnheiten gegen den Strich bürstet.

Unter diesem Blickwinkel wird Im Anfang war der Blick ein Film über das Erzählen und Erinnern, über die Flüchtigkeit der Sprache und der Bilder und über die Tricks, die uns die sinnliche Wahrnehmung spielt, auch zu einer philosophischen Überlegung über Abbild und Wirklichkeit, über Identität, Natur und Zivilisation und nicht zuletzt zu einem Appell. Der Dichter nämlich, den die Künstlerin auf ihre zwischen Forschung und Kunst angesiedelte Postkartenreise schickt, verliert am Ende seine dritte Dimension, sein Körper wird zu einer Fotoschablone, und wird von der ungebändigten, freien Natur wortlos fortgeweht. Irgendwo im tiefen Blau verliert er sich.

Bady Minck nennt den 45-Minuten-Film, der in Wien bei der Viennale uraufgeführt wurde, zwar einen "Spielfilm", doch mit den üblichen Strategien des Erzählkinos hat Im Anfang war der Blick wenig gemein. Genau dieses Überschreiten der Genres interessiert den Produzenten, Alexander Dumreicher-Ivanceanu. Er hat mit der gemeinsam mit Bady Minck geführten Luxemburger Firma Minotaurus Film das lang geplante und durch den Filmfonds Luxemburg unterstützte Projekt nach fünf Jahren zu Ende gebracht. Zum österreichischen Koproduzenten Oikodrom stieß am Ende noch Amour Fou aus Wien.

Vor einem Jahr gegründet, hat sich die junge Produktionsfirma zum Ziel gesetzt, die Grenzen zwischen Kunst, Film und Installation, aber auch die schon längst bröckelnden Grenzen zwischen Experimental- und Erzählkino aufzubrechen. "Die Zukunft liegt genau dort, an der Schnittstelle von Genres, von Film, Bildender Kunst und Wissenschaft, von klassischer Kinotechnik und digitaler Bearbeitung", beschreiben die Amour Fou- Produzenten ihre Gründungsidee. Das Interesse nicht nur an künstlerischer, sondern auch an nationaler Grenzüberschreitung und hier vor allem in Richtung Frankreich und Luxemburg erhellt sich mit Blick auf die Namen: Neben Gabriele Kranzelbinder ist Alexander Dumreicher-Ivanceanu der Co-Geschäftsführer.

In der Werkstatt der filmverrückten Wiener, einer ehemaligen Schneiderei, wurde gleichzeitig mit Im Anfang war der Blick ein Projekt des österreichischen Experimentalfilmers Martin Arnold fertig gestellt. In Deanimated stellt er den Prozess üblicher digitaler Produktionen auf den Kopf und entfernt aus bekannten Filmen Personen oder Handlungselemente. Da sind in High Noon zwar Schüsse zu hören und Rauchwölkchen zu sehen, doch weit und breit keine schießenden Cowboys. In The Lady Eve sitzen sich zwei Frauen gegenüber, offensichtlich in hoch emotionaler Stimmung, sehen sich aber nur schweigend an. Mit diesem Trick lässt Arnold den Zuschauer die Mechanismen der Dramatik im Kino erfahren, ohne sie anzuwenden. Zu sehen sind die Arbeiten dabei nicht im Kino, sondern in einer Ausstellung in der Wiener Kunsthalle.

 

Im Anfang war der Blick, Regie: Bady Minck, mit Bodo Hell sowie den Stimmen und Gedichten von Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Kamera: Jerzy Palacz, Martin Putz, Martin Gschlacht, Musik: Bernhard Fleischmann, Dr. Nachtstrom, Sainkho Namtchylak, Montage: Frédéric Fichefet, Anne Schroeder, Ton: Carlo Thoss, Post-Produktion: Martin Putz, PTD Studios/Misch Dimmer, Produktion: Minotaurus Film (www.minotaurusfilm.lu), Oikodrom, Garabet film, Amour Fou (www.amourfou.at). /Ausstellung Martin Arnold, deanimated, bis 2. Februar in der Kunsthalle Wien, www.kunsthalle.at

 

Irmgard Schmidmaier
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