Das verworrene Statement des Lars von Trier

Hitler verstehen?

d'Lëtzebuerger Land vom 09.06.2011

Hitler kann verstehen, wer sich sympathetisch mit ihm identifizieren will. Hier handelt es sich um eine affektive Position, die keineswegs das Phänomen des Hasses bei Hitler analysieren möchte oder auch nur wirklich ernst nimmt in seiner vernichtenden Verwirklichung. Zu dieser Art des Verstehens gehört eher ein empathisches Wohlgefühl als ein distanziertes Wahrnehmen und Erkennen. Dieser „Verstehende“ kann etwa Hitlers Judenhass und seine zerstörerische Wut gegen das Andere nachempfinden, bringt Verständnis dafür auf, weil er ähnlich fühlt. Er ist mit Hitler auf einer Wellenlänge. Und soweit ist er in der Tat ein Nazi.

Gerade diese traurige Schlussfolgerung hat der dänische Filmemacher Lars von Trier in seinem etwas verworrenen Statement beim Filmfestival in Cannes gezogen. Sie hat ihm dort auch sofort einen Ausschluss eingebracht. Ob er den gesucht hat oder ob er doch übers Ziel hinausgeschossen hat, steht auf einem andere Blatt.

Doch was sagt man zu dem Aufsatz des ausgewiesenen Nazifeindes Thomas Mann mit dem provokativen Titel: „Bruder Hitler“? In diesem kleinen Text von 1938 haben wir es mit einem Versuch zu tun, in dem Phänomen des Hitlerismus etwas aufzuspüren, das uns als Menschen alle betrifft. Er tat das keineswegs, um sich damit wohlig zu identifizieren, sondern um die eigenen Dispositionen zu erkunden, aber auch um das Funktionieren und die Motive das Nazismus darzulegen. Es ist also ersichtlich, dass das Verb „verstehen“ gerade in diesem Zusammenhang ganz verschiedene, um nicht zu sagen, konträre, Bedeutungen annehmen kann.

Susan Neiman, die Philosophin und Leiterin des Einstein-Forums in Berlin, hat diese Herangehensweise an das so genannte Böse einmal folgendermaßen formuliert: „Die Verteidigung der Aufklärung ist eine Verteidigung der modernen Welt, mit all ihren Möglichkeiten für Selbstkritik und Veränderung. Wenn man sich der Aufklärung verpflichtet fühlt, fühlt man sich dazu verpflichtet, die Welt zu verstehen, um sie zu verbessern.“ (Moralische Klarheit, Eurozine 10.08.2009). Hier haben wir es mit einem Verstehen zu tun, das nicht mit Sympathie für das Objekt verwechselt werden darf. Man kann Hitler auch zu verstehen suchen – und das tun viele Forscher besonders in der Zeit nach seinem Untergang –, um eine Wiederauflage dieser Form von Politik endgültig unmöglich zu machen. Es geht hierbei um ein Verstehen des Schrecklichen, wozu Menschen fähig sind, des Unsäglichen, das ihnen möglich ist, in der Absicht, es aufzulösen. Und dabei geht es nicht in erster Linie um die besondere Artung dieses 1889 in Braunau geborenen Individuums, sondern vielmehr um die Verknüpfung seiner persönlichen Bestrebungen mit den sozialen, ökonomischen und nationalistischen Umständen, mit denen sie sich verbanden. Es geht darum zu erklären, warum dieser Mensch, mal ganz abgesehen von seinen „rhetorischen Fähigkeiten“, in der damaligen politischen Umwelt zu einem solchen Durchbruch und Erfolg gelangen konnte. Es bleibt zu klären, dass er als Erlöser und Mann der Stunde erschien und bestätigt wurde, bis er weltweit seine ausgemachten Feinde und sein eigenes Volk in den Untergang geführt hatte.

Hierbei spielte die Befehlshierarchie und die soziale Rolle vieler seiner Anhänger und Anhängerinnen eine wesentliche Rolle. Als Hanna Arendt 1963 in ihrem Buch über Adolf Eichmann eine besondere Form des Bösen in unserer Zeit ausgemacht hatte, brach ein Sturm der Entrüstung über sie herein. Hanna Arendt sah in diesem pflichtbewussten Funktionär des Schreckens etwas wirken, das sie mit dem Begriff der Banalität des Bösen versah. Darin erkannten anfangs viele Freunde einer Dämonisierung Hitlers nichts anderes als eine Entwertung und Herabwürdigung von Hitlers unzähligen Opfern. Aber genau darum ging es Hanna Arendt nicht. Sie wollte von Eichmann und den anderen Schergen des Regimes die dämonische Ära des Teuflischen, wie sie etwa einen Jago oder Richard III von Shakespeare kennzeichnete, wie sie in der aktuellen Filmwelt von der schaurigen Figur Hannibal Lecters verkörpert wird, wegreißen und darunter die armselige Biederkeit des Schreckens aufzeigen. Sie kapitulierte nicht vor dem Bösen, sondern zeigte seine Wurzeln auf, um es greifbar und bekämpfbar zu machen.

„Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei.“ (Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme, 1955)

Das ist eine weiter reichende Konsequenz aus dieser die Verantwortung ablehnenden Haltung, hinter der sich auch ein Eichmann zu verbergen suchte. Hanna Arendt sah in ihm einen Hanswurst.

Jacques Wirion
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