d’Land: Helge Schneider, was haben Sie eigentlich gemacht, bevor Sie als Quatschmacher, Filmregisseur und Musiker berühmt geworden sind?
Helge Schneider: Ich hatte als junger Mann eine frühe Liebe zum Stummfilm entwickelt. Ich fand es einfach toll, dass in diesen alten Filme nie einer gesprochen hat. In Düsseldorf habe ich in einem Kino an einer Orgel Filme begleiten dürfen. Ich mochte den Job. Ich durfte improvisieren. Ich habe mich mit einem anderen Organisten, einem gewissen Professor Blarr, abgewechselt, wobei jeder von uns immer Schichten von sechs Stunden abgerissen hat. Es wurden die Filme von Louis Feuillade gezeigt, einem französischen Filmemacher aus den Zehnerjahren des 19. Jahrhunderts, der hat ganz früh bereits Serien gedreht, in 75mm, die Leinwand war damals noch fast quadratisch. Fantômas hieß die eine Serie, Die Vampire die andere. Als die vor über hundert Jahren aktuell und neu waren, hat in den Pausen zu diesen 15-Minuten-Filmen stets jemand auf der Bühne getanzt oder Musik gespielt – in Schuppen und Scheunen, den Vorgängern des Kinos. Feuillade war zu seiner Zeit sehr berühmt. Und zu diesen Filmen habe ich Orgel gespielt. Dabei ist mir aufgefallen, dass der andere Organist alles nach Noten spielte, der konnte überhaupt nicht improvisieren.
Das heißt: Wenn man ihm die Noten weggezogen hätte …?
Dann wäre da plötzlich Stille gewesen. Professor Blarr konnte Noten, ich hingegen war langhaarig. An der Orgel gab es viele Knöpfe für viele tolle Sounds, alles war mechanisch. Wenn ich auf den „Regen“-Knopf gedrückt habe, fielen im Raum hinter der Leinwand getrocknete Erbsen in einen Trichter, die anschließend durch einen kleinen Aufzug wieder nach oben befördert wurden. Und das hat geklungen wie Regen. Die Orgel stand links vor der Leinwand, die ich dadurch steil seitlich vor meiner Nase hatte. Ich habe die ganze Zeit in einer unnatürlichen Körperhaltung gespielt.
Haben Sie davon eine Nackenzerrung bekommen?
Ein funktionaler Schiefhals ist daraus hervorgegangen. Und obwohl ich herumgereicht wurde und immer wieder neue Jobs bekam, hat letztendlich Professor Blarr dann doch die meisten Auftritte abbekommen, denn es hieß: Der Schneider, der kann ja keine Noten. Da nehmen wir doch lieber den Blarr. So war das, und so ist es eigentlich auch heute noch in vielen Bereichen der Kunst.
Also wie im Fußball eigentlich.
Wie im Fußball, ganz genau … Moment! Wieso Fußball?!
Im modernen Fußball ist Improvisation eigentlich nur sehr begrenzt zugelassen. Es dominiert die Taktik.
Haben Sie da wirklich Recht?
Haben Sie nicht das Viertelfinalspiel Italien : Schweiz während der Europameisterschaft 2024 gesehen?
Ja, ich habe jedes Spiel gesehen. Ich bin ein echter Fan. Aber in dem Spiel ist Italien 2:0 untergegangen. Ich habe 90 Minuten lang weggucken müssen.
Die Italiener waren eingeschnürt in die Taktik ihres Trainers Luciano Spalletti, die sie offenbar nicht verstanden haben, weshalb sie einfach stehen geblieben sind. Die Schweizer haben eiskalt zwischen den Italienern hin und her rochiert.
Ich habe mir das damals eigentlich nur so erklären können, dass Spalletti mit drei Fünferketten spielen ließ.
Das wären ja dann 15 Feldspieler – ohne Torwart Donnarumma.
Genau, und das haben die einfach nicht verstanden. Donnarumma hat zu Recht gefragt: „Und, was ist mit mir?!“
Gab es für Sie ein Schlüsselerkenntnis?
Es war die erste EM, bei der die KI alle Spiele entschieden hat. Bei jeder Partie sitzt jemand in einem Keller und guckt sich alles noch einmal ganz genau an – ob jemand zum Beispiel mit seiner pinkfarbenen Haartolle zwei Millimeter im Abseits steht. Und dann wird ein Tor nicht anerkannt. Das heißt – nachdem der Schiri zum Rand gelaufen ist und mit den Händen das unsägliche TV-Zeichen gemacht hat. Das ist das verhängnisvollste Zeichen der Moderne, und es passt zu unserer Überwachungsgesellschaft. Ich spreche seit der EM auch nur noch vom „Woke“-Fußball.
Das erklären Sie bitte einmal.
„Woke“ bedeutet ordentlich und korrekt. Und deshalb wird das Spiel für mich langsam aber sicher immer uninteressanter. Es wird im Fußball auch gar nicht mehr richtig geholzt.
Sie meinen: umgeholzt?
Ja, genau. Früher kam oft der Krankenwagen. Also, wer schon mal wirklich beim Fußballspiel dabei war, wenn Sie mal in die Städte im Ruhrgebiet gehen würden, wo sie noch auf Bolzplätzen spielen, in Hagen oder in Oberhausen, dann schleppen die sich mit schweren Beinen durch den Matsch, und der Ball ist ganz schwer. Ich gehe oft auf solche Spiele. Und auf einmal hörst du so ein lautes Knacken, weil da zwei zusammen geknallt sind. Dann kommt der Notarztwagen. Das ist Fußball. Da gibt es auch keine drei Fünferketten.
Zurück zur Künstlichen Intelligenz!
Vor 150 Jahren hätte niemand gedacht, dass man eine künstliche Hüfte haben kann aus Stahl. Und heute laufen alle mit künstlichen Hüften herum, die ganze Stadt klappert, wenn man nur hinhört.
Hatten Sie schon immer so gute Ohren?
Ja. Das ist einfach so, ich weiß auch nicht, warum. Es gibt einfach Talente, von denen weiß man gar nicht, wo man die her hat. Zum Beispiel auch mein Mut zur Improvisation. Wo habe ich den her? Hat es in meiner Familie vielleicht mutige Vorfahren gegeben? Etwas anzufangen, es nicht vor sich her zu schieben und einfach zu machen – das ist für mich die Definition von Mut. Einfach nicht in die Schule zu gehen zum Beispiel. Mit 14 den Mut zu haben, die Unterschrift des Vaters vom Lottoschein abzupausen, die Entschuldigungen selbst zu schreiben und einfach ein halbes Jahr nicht in die Schule zu gehen. Das ist dann aber aufgeflogen, als ich irgendwann geschrieben hatte, ich hätte Angina Pectoris. Das war auffällig, weil das umgangssprachlich für Herzinfarkt ist. Mein Klassenlehrer, Herr Becker, der zugleich Lateinlehrer war, wurde hellhörig und bestellte meinen Vater zum Rapport in die Schule.
Sind Sie dann von der Schule geflogen?
Ich musste zum Psychiater, das war ein richtig toller Typ. Der guckte mir tief in die Augen und sagte nur: „Hör auf zu kiffen!“ Als Substitut hat er mir Tabletten verschrieben, die hießen Librium 10, so eine Art Valium. Habe ich sofort verschenkt. Ich wurde von ihm rückwirkend für ein ganzes Jahr vom Schulunterricht befreit. Das wünsche ich mir für meine Kinder auch.
Was macht eigentlich einen guten Witz aus?
Ja, darüber denke ich auch manchmal nach. Spontanität und irgendwie auch eine überraschende Pointe, mit der man überhaupt nicht rechnet. Aber es ist schwer geworden. Die Welt wird immer humorloser. Es wird erwartet, dass man sich selbst die Schere im Kopf ansetzt, dass man kontrolliert, was man erzählt. Ich könnte Ihnen jetzt einen Witz erzählen, der ist sehr, sehr lustig: Geht ein Mann in den Puff …
Und?
Tut mir leid. Der Witz ist nicht woke.
Und was ist mit den ganzen Blues-Sängern? Können die jetzt nicht mehr singen: „When I woke up this morning“?
Genau, das können die jetzt nicht mehr. Da könnte sich ja jemand, der morgens nicht mehr aufwacht, benachteiligt fühlen. Und an solche Sachen denke ich natürlich auch auf der Bühne. Ich frage mich: Darf ich eigentlich noch „Spaghettisierung“ sagen? Also sage ich lieber nichts und spiele Klavier.
Was genau bedeutet „Spaghettisierung“?!
Ich bin ja kein Wissenschaftler. Aber der Begriff beschreibt wohl, was mit uns Menschen geschieht, wenn die Erde durch ein Schwarzes Loch hindurch gesogen wird, und wir für eine kurze Zeit alle ganz dünn werden – wie Spaghetti. Und wenn wir dann auf der anderen Seite wieder rauskommen, sind wir wieder normal, haben aber alles vergessen. Die gängige These lautet: Man wird spaghettisiert, aber man vergisst es gleich wieder. Das passiert ja vielen auch im echten Leben, dafür braucht es gar kein Schwarzes Loch. Also, mir passiert das auf alle Fälle öfter. Das hat aber nichts mit dem Alter zu tun. Es hat eher mit dieser Informationsdichte zu tun. Es kreisen in meinem Kopf einfach permanent sehr viele Gedanken gleichzeitig herum. Sie könnten beispielsweise denken, ich sitze hier, höre Ihnen zu, und wir reden ganz normal. In Wirklichkeit denke ich aber gerade an meine nächste Komposition, bereite in meinem Kopf bereits alles vor.
Denken Sie immer so weit in die Zukunft?
Ich bin eigentlich immer auf Tournee, trete permanent auf. Aber heutzutage muss ich ein Jahr vorher schon die Auftritte und das Programm festlegen, das ich in einem Jahr spielen werde. Ich finde das furchtbar. Ich möchte als Zuschauer spontan entscheiden können, ob ich heute Abend in ein Konzert gehen will, deshalb bestehe ich auch darauf, dass es bei jedem meiner Konzerte auch noch Abendkasse gibt. Wenn ich mich zum Beispiel mit einem Freund für nächstes Jahr verabreden möchte, dann sagt der: Du, das geht leider nicht, am 10. Oktober gehe ich zu Al Jarreau. Als Künstler macht mich das fertig.
Schauen Sie eigentlich gerne Science-Fiction-Filme?
Nein, solche Filme gucke ich nicht mehr. Aber ich habe Jules Verne gerne gelesen, alle Romane. Auch Karl May, alle 72 Bände. Ich bin dann aber irgendwann umgestiegen auf Pixie-Bücher.
Weil man bei denen so schnell sagen kann: Ich habe schon wieder ein Buch gelesen?
In den Pixie-Büchern werden meistens einfache Geschichten erzählt. Man sieht auf der ersten Seite ein Schaf, und dann sagt es auf der zweiten Seite Mäh, auf der dritten Seite kommt die Mutter, auf der vierten trinkt es Milch, und dann kommt auf Seite fünf der Bauernhof und auf Seite sechs der böse Wolf, und dann ist das Buch zu Ende. Irgendwann begann ich Lupo modern zu lesen, Fix und Foxi und sowas. Mein Vater war aber dagegen. Für ihn war das Schund.
Erinnern Sie sich gerne an Ihre Schulzeit?
Ja, irgendwie schon. Meine Lehrer waren alles komische Typen. Und meine Oma, also die Mutter meines Vaters, ist nie in die Kirche gegangen. Sie hat in der Kirche auch Kerzen geklaut.
Auf was für eine Schule sind Sie gegangen?
Auf das staatliche Gymnasium für Jungen, ich konnte ja schließlich fließend Latein.
Nachdem Sie von der Schule geflogen sind, sind Sie dann Musiker geworden?
Ich war vorher schon Musiker, auf Partys habe ich Klavier gespielt. Ich wurde mit der Zeit so erfolgreich, dass ich davon leben konnte.
War Ihr Alleinstellungsmerkmal damals schon der Quatsch, den Sie zwischen den Stücken gemacht haben?
Quatsch habe ich tatsächlich schon immer gemacht.
Haben Sie damals bereits Jazz gespielt?
Ich habe zunächst Bach studiert. Das wohltemperierte Klavier hat mir sehr gut gelegen, ich bin schließlich selbst wohltemperiert. Und meine Klavierlehrerin hat immer neben mir gestanden und hat mir ab und zu mal einen Hieb auf die Hand gegeben. Mit einem Lineal.
War das Lineal aus Holz oder aus Plastik?
Aus Holz. Ich sollte am Tag sechs bis acht Stunden Bach üben, habe mir zu Hause aber lieber selbst Boogie Woogie beigebracht. In dieser Zeit habe ich auch angefangen zu improvisieren. Ich habe begonnen, mir Melodien auszudenken und Harmonien zu ihnen finden. Ich habe alles aber adaptiert von Bach, der uns mit seiner Musik ja viele modulare Bausteine mitgegeben hat.
Haben Sie auch die Goldberg-Variation gespielt?
Die Goldberg-Variationen habe ich zwei, dreimal durchgespielt, habe dann aber gesagt, nee, das ist nicht so mein Ding. Zu schnulzig.
Warum geben Sie eigentlich keine Interviews mehr?
Man muss Markierungen setzen, man muss Dinge behaupten. Mein Vorbild, Adriano Celentano, ist nie geflogen, deshalb war er nie in Amerika. Er ist immer nur mit dem Zug gefahren. Sollte also mal eine Anfrage als Fußballtrainer kommen, zum Beispiel nach Adelaide oder São Paulo, dann kann ich immer sagen: „Ich fliege nicht, tut mir leid.“
Einer Schiffsreise würden Sie sich nicht verwehren?
Nein, auch da sage ich konsequent nein. Obwohl ich früher in einer Rudergemeinschaft im Wassersportverein Mülheim an der Ruhr gerudert habe. Ich war auch im Gymnasial-Turnverein und konnte Flickflack und so einiges anderes mehr. Aber als ich einmal an die Ringe gehoben wurde und dann in drei Metern Höhe an diesen Ringen hing, habe ich mich einfach fallen lassen. Damit war dann auch diese Karriere zu Ende.