Deutschland

Chaostage

d'Lëtzebuerger Land vom 07.06.2019

Auf einmal ging alles ganz schnell. Nach der verpatzten Europawahl am vorvergangenen Wochenende wurde Andrea Nahles, scheidende Sozialdemokratin, am Nasenring durch die politische Manege geführt. Nicht vom politischen Gegner, sondern von der eigenen Mannschaft. Sie allein wurde für das Wahldebakel verantwortlich gemacht, ihr politisches Versagen angehaftet, Schuld in die Schuhe geschoben. Sonst niemand. Weder Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises, dem Zusammenschluss konservativer Genossinnen und Genossen, der im Europa-Wahlkampf keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Nahles als Parteivorsitzende zu kritisieren und demontieren. Noch Kevin Kühnert, Chef der Jusos, der Jugendorganisation der SPD, der immer wieder unaufgefordert mit politischen Maximalforderungen die Kampagne störte. Kühnert verstieg sich sogar dazu, sich öffentlich für Nahles zu schämen. Am vergangenen Samstag war dann das Maximum an Demütigungen erreicht. Gleichzeitig musste die Chefin erkennen, dass sie den Machtkampf um Vorsitz von Partei und Fraktion verloren hatte. Nahles warf hin. Ihre gesamte politische Karriere.

Auf der Habenseite steht, dass Andreas Nahles eine exzellente Fachpolitikerin ist, die stets – und das bescheinigte auch der politische Gegner – bestens vorbereitet war, sachkundig und Themen bewegen konnte, indem sie Mehrheiten für Kompromisse zusammenbekam. Einer dieser Kompromisse war die Beförderung des Ex-Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der nach politisch motivierten Aussagen seinen Posten räumen musste und weggelobt wurde. Minus: Ihr fehlt es an

jedwedem Charisma. Ungelenke Auftritte und fehlendes Gesangstalent kommen hinzu. Und ja, es gehört zu der Debatte um Andrea Nahles auch dazu, wie unterschiedlich Politikerinnen und Politiker gewertet werden. Als Gerhard Schröder einst im Wahlkampf sagte „Hol‘ mir mal ‚ne Flasche Bier!“, galt dies als joviales Kumpeldasein eines Genossen mit Kultcharakter, in dem sich Nahles nie sonnen konnte. Je volkstümlicher sie sich gab, desto lauter und verheerender die Kritik.

In der Folge ist die deutsche Sozialdemokratie in ihrer vielleicht existenziellsten Krise seit ihrer Parteiwerdung vor 156 Jahren gerutscht. Ratschläge von den Parteimitgliedern sind derzeit wohlfeil, jeder will den eigentlichen Grund der Misere kennen und verweist auf die „Agenda 2010“-Gesetze der rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder. Konsens besteht darüber, dass diese Reformen die Basis der wirtschaftlichen Prosperität des Landes sind. Unbestritten ist, dass es eine Reform dieser Agenda bedarf, die eine Fortschreibung und Anpassung der Sozialgesetze an die gesellschaftlichen wie ökonomischen Gegebenheiten bedingt.

Nur selten wird erwähnt, dass die SPD nun bereits zum vierten Mal den Junior­partner in einer Großen Koalition gibt, dabei zum dritten Mal unter Kanzlerin Angela Merkel. Was zum Ende der 1960-Jahre als Ausnahme galt, ist in den beiden ersten Dekaden des 21. Jahrhundert zur Regel geworden. Die deutsche Politik basiert seit 15 Jahren auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen politischen Strömungen in zwei Volksparteien, die sich einst als Antipoden gegenüberstanden und so den politischen Diskurs bestimmten. Die aus der Koalition resultierende Macht im Parlament wurde jedoch nicht genutzt, um politische wie gesellschaftliche Projekte voranzubringen, sondern lediglich den Status-quo zu verwalten.

Nach der Bundestagswahl 2013 gab es die Möglichkeit zu einer rot-rot-grünen Regierung von SPD, Linke und Grünen. Die Sozialdemokraten wagten es damals nicht einmal, Sondierungsgespräche mit den beiden kleinen Parteien zu führen. Serge Embacher, im Jahr 2013 Vorsitzender der SPD im Berliner Stadtteil Friedenau, erklärte damals gegenüber dem Radiosender „100,7“, dass sich die Sozialdemokratie nie von dieser Sehnsucht und dem Verlangen nach Macht erholen würde. Er sollte Recht behalten.

Nun geht es ans Kaffeesatzlesen: Malu Dreyer und Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz die eine und Mecklenburg-Vorpommern die andere, werden nun die Partei gemeinsam mit Thorsten Schäfer-Gümbel, gescheiterter Herausforderer in Hessen, bis zum nächsten Parteitag leiten, der auf September vorgezogen werden soll. Mögliche Kandidatinnen und Kandidaten für den Parteivorsitz haben sich bislang noch nicht positioniert. Kahrs und Kühnert verbitten sich derweil jedwede Personaldiskussion, vor allen Dingen um die eigene Person aus der Kritiklinie zu bringen. Mit Kühnert wird von der deutschen Presse derweil der nächste Messias der Sozialdemokratie hochgeschrieben, was ein wenig an die Karriere von Martin Schulz erinnert, als Kanzlerkandidat zunächst hochgefeiert, dann tief gestürzt. 

Doch vielleicht geht nun auch alles viel schneller als gedacht: Die SPD einigt sich frühzeitig auf einen mögliche Nahles-Nachfolge, lässt die Große Koalition platzen, nutzt die Verunsicherung der Christdemokraten über deren Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und zettelt Neuwahlen im Spätherbst an. Das Ergebnis ist offen: vielleicht müssen sich die Grünen dann auch auf eine Spitzenkandidatin festlegen, um ihren wahrscheinlichen Wahlsieg dann auch personell bedienen zu können. Die FDP wird an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Die AfD wird weitere Sitze hinzugewinnen. Die Linke auch. Die Konservativen werden sich irgendwie über den Durst retten, die SPD geht abgeschlagen als dritte ins Ziel, doch es wird am Ende reichen, für eine weitere Neuauflage der einst Großen Koalition, des manifestierten Stillstands.

Martin Theobald
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