leitartikel

Aktionismus

d'Lëtzebuerger Land vom 07.03.2025

Der Tiefpunkt war am Montag im Gemeinderat von Luxemburg-Stadt wohl erreicht, als Lydie Polfer einen Mord an einem elf-jährigen Mädchen in Frankreich als Rechtfertigung für Videoüberwachung nutzte. Immerhin sei der Straftäter in diesem Fall durch Kameramaterial ermittelt worden. Ein Lehrstück in Sachen Populismus. Was könnte schlimmer sein als der Tod eines Kindes? Auf diesen gemeinsamen Nenner kann sich die Bevölkerung einigen. Aber wenn sie Angst schürt, liefert die liberale Bürgermeisterin die Lösung fürs Problem gleich mit: Mehr als fünf Dutzend neue Kameras, die die Bürger/innen Bonnewegs ständig überwachen werden und nebenbei möglicherweise dabei helfen, ein paar Straftaten aufzuklären. Die große Frage, die auch am Montag niemand beantworten konnte, lautet: Welche Straftaten sind das? Bei Drogendelikten hilft die Überwachung wenig. Der In-Flagranti-Prozentsatz liegt bei circa vier Prozent. Der Vandalismus in den Vorgärten, der den Anwohner/innen im Bahnhofsviertel zurecht sauer aufstößt – auch dafür eignet sich Visupol nicht besonders gut, denn immerhin sind die Hauseingänge maskiert, privates Eigentum wird unkenntlich gemacht.

Ein gewisses Maß an Emotion in der Politik ist sicherlich nützlich. Maren Urner, Neuropsychologin und Autorin von Radikal Emotional. Wie Gefühle Politik machen, erklärt, dass Überzeugungen immer mit Gefühlen zu tun haben – dass Entscheidungen auf Emotionen basieren. Sie plädiert dafür, dass politisch Verantwortliche öfters zugeben sollen, wenn sie sich unsicher sind oder etwas nicht wissen. Also das Gegenteil dessen, was ständig im Parlament und in Gemeinderäten passiert. Nicht Demut wird belohnt, sondern aggressive Besserwisserei. Die Rhetorik, die sich derzeit in weiten Teilen Europas und jenseits des Atlantiks beobachten lässt, versetzt unser Gehirn in einen konstanten Kampf-oder-Flucht-Modus. Die Regulation fällt schwer. In Luxemburg ist diese Rhetorik (die ADR ausgenommen) und außerhalb des Wahlkampfs bisher allgemein noch milde. Doch es gibt sie auch in der politischen Mitte, wie Polfer am Montag erneut bewies. Weitere Ausreißer in diese Richtung waren Aussagen der Politikerinnen Simone Beissel (DP) und Astrid Lulling (CSV) während der Debatte um das Bettelverbot, oder Marc Lies’ Facebook-Post zur Einwanderung. Angst zu schüren, und doch gewählt zu werden, funktioniert freilich nur dann, wenn Aktionismus Teil der Strategie ist.

Die Polizei wollte die Anzahl an Kameras der Visupol dem Land gegenüber nicht beziffern, da es sich „um unterschiedliche Arten“ handle. Mit den 67, die in geraumer Zeit Bonneweg schmücken werden, sind es jedenfalls mehr als 300 für die Hauptstadt. In George Orwells Heimat Großbritannien hängen mittlerweile mehr als sieben Millionen Kameras, gibt die British Security Association an – eine Kamera pro elf Einwohner. Ans CCTV haben sich die Briten gewohnt. Es ist Teil des Alltags und wird kaum infrage gestellt. Eben diese Normalisierung gilt es zu verhindern. Das tat David Wagner von Déi Lénk, als er davor warnte, den schleichenden Prozess zu banalisieren – und in zehn Jahren die KI-Gesichtserkennung gutzuheißen.

Für einen Eingriff in die Privatsphäre der Anwohner/innen – die Polizei schätzt das Risiko dazu in seinem Bericht zur Lage in Bonneweg als hoch ein – wären eindeutige Daten von Vorteil. Doch die gibt es in dieser Form kaum – außer, dass es in diesem Radius in Bonneweg regelmäßig zu Delikten kommt. Die Studie der Generalinspektion der Polizei, die der damalige grüne Minister für Innere Sicherheit François Bausch 2019 in Auftrag gegeben hatte, zeigt keine eindeutige Verbesserung auf. Das soll niemanden stören. Innen- und Polizeiminister Léon Gloden (CSV) sagte am Dienstag mit einem Lächeln im Parlament in Bezug auf die Videoüberwachung : „Dee sech näischt ze Scholde komme léisst, dee brauch jo och näischt ze fäerten.“

Allein Déi Lénk stimmten im Gemeinderat dagegen, die Grünen enthielten sich. Obwohl die LSAP sich im Comité de Prévention noch für das Projekt ausgesprochen hatte, hat die neue sozialistische Garde unter Maxime Miltgen und Gabriel Boisante eine Kehrtwende gemacht. Dabei klang Boisante plötzlich mehr wie Tom Krieps, der über ein Dutzend Jahre im Gemeinderat saß und die Freiheitseinschränkung der Videoüberwachung kritisch sieht. Auch die LSAP enthielt sich am Ende.

Sarah Pepin
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