Ein Virus dekonstruiert den europäischen Gedanken

Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

Polizisten führen Kontrollen durch an der Grenze zwischen Perl und Schengen
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 20.03.2020

Selektion Ein starker Westwind weht. Die dunkelblaue Flagge mit dem Kranz aus zwölf goldenen Sternen flattert. Ein schönes Bild vor blauem Himmel. Nur unweit davon führt eine Brücke über die Mosel von Schengen nach Perl, von Luxemburg nach Deutschland. Es ist keine spektakuläre Brücke, sondern eine funktionale Betonverbindung, wie es sie dutzendfach an der Mosel gibt.

Doch seit vergangenem Montag verbindet die Brücke nicht, sondern sie trennt. In einem Kreisverkehr am deutschen Moselufer haben Bundespolizisten die Einfahrt nach Perl mit Hütchen versperrt. Drei Polizisten kontrollieren jedes Auto: Einer hat ein Stück Kreide in der Hand, eine Polizistin bewacht die Leitkegel und einer redet. Wer die deutsche Staatsbürgerschaft oder einen Passierschein besitzt oder einen triftigen Grund anführen kann, erhält ein Nicken. Die Polizistin entfernt die drei Leitkegel, das Auto darf weiterfahren. Wer nicht zu dieser privilegierten Gruppe gehört, erfährt dies durch ein Kopfschütteln. Dann markiert der Polizist mit der Kreide das linke Vorderrad des Fahrzeugs, der Fahrer muss im Kreisverkehr die Ausfahrt Richtung Schengen oder Frankreich nehmen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat über Nacht die Grenzen zu Luxemburg geschlossen. Es wird nicht nur kontrolliert, sondern auch selektiert. Wer nicht ins Raster passt, darf nicht mehr hinein. Das hat es in dieser Form seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.

Die Masken fallen Es ist ein Attribut der aktuellen Krise, dass sich die Dinge rasant verändern. Was vor wenigen Tagen noch als Fundament einer sicher geglaubten quasi natürlichen Ordnung galt, kann heute schon obsolet sein. Was hingegen noch als undenkbar, geradezu surreal galt, kann heute schon Realität sein. Die Verdichtung von markanten Ereignissen und Entscheidungen ist eine
Chiffre der Katastrophe in Zeiten des Coronavirus.

Die Krise lässt dabei die Masken fallen, legt mit frappierender Ehrlichkeit die realpolitischen Gegebenheiten offen. Dazu gehört, dass die Europäische Union kein wesentlicher Akteur mehr ist. Sie wird entlarvt als Papiertiger, als Schönwetter-Institution, die lediglich in ruhigen Phasen von Bedeutung ist. Wenn es ernst wird, ziehen die Staaten sich auf die Nation zurück. Jeder für sich alleine. Oder wie es Außenminister Jean Asselborn (LSAP) ausdrückt: „Es ist ein Trauerspiel. In Afrika zeigen die Staaten in Krisenzeiten mehr Solidarität als in Europa.“

Gerade das muss Luxemburg in diesem Augenblick erfahren. Die Bürger dieses Landes werden daran erinnert, dass sie in einem Kleinstaat leben. Ein Staat, dessen Existenz in Krisenzeiten schnell gefährdet und vom guten Willen seiner großen Nachbarn abhängig ist – ähnlich wie in den Jahren 1940, 1914, 1870 oder 1867. Luxemburg ist lediglich „ein Bauer auf dem internationalen Schachbrett“, wie es der 2018 verstorbene Historiker Gilbert Trausch ausdrückte.

Melierdialog Anfang der Woche war laut Regierungskreisen für eine kurze Zeit nicht klar, ob der deutsche Staat es den Pendlern weiterhin erlauben würde, täglich die Grenze zu passieren. Und auch der französische Präsident Emmanuel Macron erwog, die Grenzen der Region Grand Est zu Luxemburg vollends abzuriegeln. Für Luxemburg käme das einer Katastrophe gleich. Das wirtschaftliche Leben ist nicht nur vollkommen auf die Arbeit von rund 200 000 Grenzgänger ausgelegt, auch der Gesundheitsbereich, der in diesen Tagen oberste Priorität verdient, wird zu rund 70 Prozent von Arbeitskräften mit Wohnsitz außerhalb des Großherzogtums getragen. Die Nervosität der Regierung ist also gerechtfertigt.

Ein wenig erinnert die Lage an den berühmten Melierdialog, den der Historiker Thukydides in seinem Werk Der Peloponnesische Krieg festhielt. Ein kleiner Inselstaat in der Ägäis wurde 416 vor Christus vom imperialistischen Nachbarn Athen aufgefordert, sich zu unterwerfen. Der hoffnungslos unterlegene Kleinstaat berief sich auf das Recht des Schwächeren, setzte auf moralische Argumente und das Gesetz der Vernunft. Athen antwortete mit der Macht des Stärkeren, zwang dem Inselstaat mit Gewalt seinen Willen auf. Es war eine Blaupause in Machtpolitik, die das Werk von Theoretikern wie Niccolò Machiavelli oder Friedrich Nietzsche stark beeinflusste.

Die Luxemburger Regierung setzte Anfang der Woche in ihrer unterlegenen Lage gegenüber den großen Nationen Deutschland und Frankreich ebenfalls auf das Gesetz der Vernunft. Premierminister Xavier Bettel (DP) und Außenminister Asselborn erklärten, den beiden Staaten unmissverständlich, dass ein hermetisches Abriegeln der Grenzen das Ende für Luxemburg bedeuten würde. Dass das Luxemburger Modell dann kollabieren würde. „In Frankreich weiß man bis an oberster Stelle von unserer dringlichen Lage“, so Bettel bei einem Pressebriefing am Mittwoch.

Und anders als die Athener haben die beiden Nachbarn Luxemburgs im 21. Jahrhundert
(vorerst) nicht auf das Recht des Stärkeren zurückgegriffen und Vernunft walten lassen. Die Grenzen bleiben für Pendler offen. Das Luxemburger Modell kann weiter bestehen.

Systemrelevant Trotzdem ist die Grenzsituation weiterhin angespannt. Die Grenzkontrollen führen zu zähflüssigem Verkehr und langen Rückstaus. Am Dienstagabend mussten manche Pendler bis zu drei Stunden an der Grenze verharren, bis sie weiterfahren durften. Laut Außenminister Asselborn habe man sich nun mit Rheinland-Pfalz und dem Saarland einigen können, eine Pendler-Fahrbahn an den beiden Autobahnen A1 und A13 zu errichten, damit sie die Grenze schneller überqueren können. Dennoch wird es weiter zu Zähfluss und Rückstaus kommen. Und die Unsicherheit, dass die Schlagbäume doch vollends fallen, schwebt wie ein Damoklesschwert über der aktuellen Situation.

Dabei sind sich die europäischen Staaten zumindest einig, den freien Warenverkehr im Binnenmarkt zu garantieren. Schließlich kann die ohnehin angeschlagene Wirtschaft gerade nichts weniger gebrauchen als eine Unterbrechung der fein austarierten, grenzüberschreitenden Lieferketten. Wenn Rohstoffe nicht rechtzeitig ankommen, steht womöglich die ganze Produktion bald still. Und nur durch die Versorgung der verunsicherten Bürger lässt sich die Ausnahmesituation aufrechterhalten, ohne dass die Gesellschaften in Panik verfallen.

Der Finanzdirektor des Speditionsunternehmens Arthur Welter Ben Frin (früherer RTL-Journalist) schätzt die Lage aktuell als stabil ein. Man habe zwar an manchen Grenzen mit Verzögerungen zu rechnen, aber der Transport könne noch garantiert werden. Die Politik werde sich nun allerdings bewusst, dass Speditionsunternehmen „systemrelevant“ seien. Arthur Welter transportiert dabei nahezu sämtliche Waren durch ganz Europa: von Klopapier über Nudeln, Medizinprodukten bis hin zu Industriestahl. Auch Serge Turmes, dessen Unternehmen Versis (De Verband) zuständig ist für die Lieferung von Produktionsmitteln im Agrarbereich, sagt, dass die Lieferketten aktuell noch funktionieren. Aber der Druck werde täglich größer, so dass bald mit Engpässen und Ausfällen zu rechnen ist. Wie die Bauern darauf reagieren werden, will er sich nicht ausmalen.

Isolation Trotz gegenteiliger Behauptungen überwiegt in derzeitige Krise auch beim Warenfluss ein Hang zum Protektionismus. Jede Nation versucht etwa medizinisches Schutzmaterial zu hamstern, Deutschland verbietet den Export von medizinischer Schutzkleidung, Frankreich beschlagnahmt Atemmasken. Die Vorstellung verbreitet sich, die Nationen müssten im Kampf gegen das Virus die Globalisierung zurückfahren und einen wachsenden Teil ihrer Medikamente und Impfstoffe, ihrer medizinischen Geräte wieder selbst produzieren. Nach dem Motto: Autarkie statt Solidarität. Die europäischen Staaten haben offenbar vergessen, dass der Erfolg auf Weltoffenheit und Austausch und nicht aber auf der Flucht in eine gestrige Vorstellung von Selbstversorgung beruht. Man habe das Gefühl, so Asselborn, dass niemand sich mehr daran erinnere, warum die Europäische Union eigentlich gegründet wurde. Er sehe nur noch Egoismus.

Emmanuel Macron und Angela Merkel haben in ihren Ansprachen die Europäische Union folglich nicht erwähnt. Zwar gibt es weiterhin unter den Ministern Videoansprachen mit Kommission und Rat, allerdings wirkt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nur wie ein Nebendarstellerin im aktuellen Krisenszenario. Die Gesundheitspolitik in der Europäischen Union ist laut Vertrag von Amsterdam zwar eine Angelegenheit der Nationalstaaten, aber die derzeitige Krise geht weit über Gesundheitspolitik hinaus.

Xavier Bettel versucht in diesen Tagen klarzumachen, dass die Regeln und Maßnahmen im dreimonatigen Ausnahmezustand nur für diese Zeit gültig sind. Doch die Politik von heute setzt auch die Standards von morgen. Es war erschreckend leicht, die Welt auf den Kopf zu drehen und bürgerliche Rechte vorübergehend außer Kraft zu setzen. Doch es wird wahrscheinlich umso schwerer sein, die Entwicklungen wieder einzufangen und zum Business as usual zu kehren. Idealisten sehen aktuell eine Chance, um das System von Grund auf neu zu bauen: Auf ein reinigendes Gewitter folgt eine bessere Welt. Ihr Optimismus ist löblich, aber wohl naiv. Denn für Bettel und seine Amtskollegen wird es nach der Krise eher darum gehen, die Geister, die sie riefen, wieder loszuwerden.

Pol Schock
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