Von einer Produktionskennzahl zum politischen Kampfbegriff

Die Produktivitätsschlacht

d'Lëtzebuerger Land vom 10.11.2017

Vor 14 Tagen stellten Jean-Jacques Rommes und Marc Wagener den im Kammerplenum versammelten parlamentarischen Ausschüssen die Ansichten der Union des entreprises luxembourgeoises (UEL) und der Handelskammer zum Rifkin-Bericht vor. Dabei wünschten sie sich von der begonnenen oder bevorstehenden dritten Industriellen Revolution einen Übergang von einem „extensiven“ zu einem „intensiven Wirtschaftswachstum“. Denn sie klagten, dass die Luxemburger Volkswirtschaft unter ihrer niedrigen Arbeitsproduktivität leide, das heißt einem zu hohen Arbeitsaufwand im Vergleich zum Resultat. Seit 2000 hätten, so die beiden Unternehmersprecher, das Bruttoinlandsprodukt und die geleisteten Arbeitsstunden um 51,4 Prozent beziehungsweise 50,3 Prozent zugenommen, die sichtbare Arbeitsproduktivität aber stagniere bei gerade 0,7 Prozent. Während die Arbeitsproduktivität bei Luxemburgs Haupthandelspartnern zwischen 2007 und 2014 leicht gestiegen sei, habe sie hierzulande sogar ein wenig abgenommen.

Das sieht aber nicht jeder so. Die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, Francine Closener (LSAP), stellte nur eine Woche später einen 238 Seiten dicken Bilan compétitivité 2017. Le nouveau tableau de bord de la compétitivité vor. Und darin heißt es stolz: „Quant aux indicateurs qui reflètent la compétitivité-prix et -coût, le Luxembourg montre de très bonnes performances ces dernières années. Qu’il s’agisse du taux moyen de variation annuelle de la productivité globale des facteurs dans l’ensemble de l’économie (A15), de la productivité réelle du travail par heure travaillée (A16), de CSU [coût salarial unitaire] nominal (A17) ou de PIB/heure travaillée (A20), le Luxembourg est toujours parmi les 10 premiers de l’Union européenne“ (S. 76).

Erstaunlicherweise bescheinigen auch die in der Regel sehr liberalen und unternehmerfreundlichen Länder-Rankings Luxemburg eine hohe Produktivität. Die private Managementschule IMD im Schweizer Lausanne führte Luxemburg im Mai in ihrem 700 Schweizer Franken teuren World Competitiveness Yearbook mit der dritthöchsten Produktivität von 63 Industriestaaten auf. Das deutsche Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung der mittelständischen Lobby Stiftung Familienunternehmen veröffentlichte im Januar seinen Länder-Index. Dabei kam Luxemburg bei der Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde auf den ersten Platz, was teilweise auf die „Dienstleistungsorientierung“, die „Hochlohnbeschäftigung im Finanzsektor“ und die „qualifizierten Einpendler“ zurückgeführt wird. Im Global Innova­tion Index, den die US-Finanzdatenhändler Bloomberg im Januar veröffentlichten, erzielte Luxemburg bei der Produktivität, der Entwicklung des Bruttosozial- und –inlandsprodukts pro Beschäftigten, den ersten Platz in der Europäischen Union und den vierten weltweit.

Im Bilan compétitivité 2017 stellt Statec-Forscher Charles-Henri DiMaria fest, dass die Produktivität hierzulande seit 1995 und bis über das Platzen der Internet-Blase hinaus zunahm, dann ging sie ab 2003, in der Industrie sogar früher, und über den Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise hinaus zurück, um seit 2013 wieder zu steigen (S. 202). Von 1995 bis 2003 habe die Totale Faktorproduktivität vor allem durch eine Steigerung der Effizienz, seit 2003 dann eher durch den Einsatz verbesserter Produktionstechniken zugenommen (S. 204). Sowohl in der Industrie als im Dienstleistungsbereich habe laut DiMaria die Arbeitsproduktivität eher durch eine Steigerung der Bruttowertschöpfung als durch eine Senkung der benötigten Arbeitszeit zugenommen (S. 212), im Dienstleistungsbereich sei die Zahl der Arbeitsstunden überall gewachsen (S. 216). Wobei die chemische Industrie ihre Produktivität am meisten erhöhen konnte, während die Produktivität der Lebensmittelindustrie am meisten fiel (S. 215). Die Lohnstückkosten hätten in den meisten Indus­trien und Dienstleistungen zugenommen, weil die Löhne schneller als die Produktivitätsgewinne stiegen.

Noch vor einigen Jahren war die Produktivität kein öffentliches Thema. Die Arbed meldete von Zeit zur Zeit, dass es ihr wieder gelungen war, die Zahl der Arbeitsstunden zur Herstellung einer Tonne Stahl zu senken. Produktivität wurde stets als Arbeitsproduktivität verstanden und war eine Kennziffer eines Betriebs, bestenfalls einer Branche, die lediglich Firmenleiter interessierte. Doch in der nationalen Mobilisierung zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist die Produktivität inzwischen zu einem Schlüsselbegriff geworden. Es geht nicht mehr um die Produktivität eines Betriebs oder einer Branche, sondern einer ganzen Volkswirtschaft, so als sei ein ganzes Land nichts als eine einzige Exportfirma, in der ein ganzes Volks immer härter, immer schneller arbeiten müsse, um immer mehr und immer billiger zu produzieren. Der Global Competitiveness Report 2017-2018 des aus Davos bekannten Weltwirtschaftsforums bewertet die Produktivität bemerkenswerterweise nicht, stellt die internatio­nale Wettbewerbsfähigkeit aber quasi synonym als Summe dar von allem, was die Produktivität eines Landes bestimmt.

So wurde die Produktivität zum politischen Kampfbegriff. Nicht nur weil sich seit dem Ende der Goldenen Dreißiger in den diskret um eine nationale Lohnpolitik bemühten CSV/LSAP-­Koalitionen der sozialdemokratische Glaubenssatz durchgesetzt hat, dass die Löhne nicht schneller als die Produktivität wachsen dürften. Auch der Europäische Ministerrat riet in seinem Gutachten vom 14. Juli 2015 zum Luxemburger Stabilitätsprogramm, „[de] réformer le système de forma­tion des salaires, en concertation avec les partenaires sociaux et conformément aux pratiques nationales, afin que les salaires évoluent en fonction de la productivité, en particulier au niveau sectoriel“. Doch wenn die Produktivität die Lohngestaltung bestimmen soll, haben die Gewerkschaften Interesse daran, ein hohes Produktivitätswachstum vorzurechnen, während die Unternehmer die Produktivität stagnieren sehen. Die über die niedrige oder gar rückläufige Produktivität klagenden Vertreter der UEL und der Handelskammer bestanden vor 14 Tagen im Parlament gleich mehrmals auf eine „Verteilungspolitik, die mit den ex ante erzielten Produktivitätsgewinnen vereinbar“ sei.

2004 wurden die oft mit der Produktivität gleichgesetzten Lohnstückkosten zu einem von Lionel Fontagné im Tableau de bord national de la compétitvité zurückbehaltenen Alarmsignal für die Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit erklärt, mit dem sich die Tripartite zu befassen hat. Deshalb stellt der Bilan compétitivité 2017 zum Produktivitätsverlust in der Krise von 2008 fest: „Une explication à cette évolution plus défavorable au Luxembourg est la pondération plus forte du secteur financier dans l’économie luxembourgeoise, secteur qui par sa perte de productivité élevée sur les dernières années a fortement contribué à la hausse du CSU au Luxembourg. La même explication vaut pour l’évolution dans l’industrie qui sur les dernières années de crise a opéré des plans majeurs de maintien dans l’emploi. Depuis 2011, le Luxembourg se trouve de nouveau sous le seuil limite, et n’est donc pas confronté à un risque de déséquilibre macroéconomique pour cet indicateur“ (S. 154).

Während aber die internationale Wettbewerbsfähigkeit in der Öffentlichkeit mit der Notwendigkeit von Lohnmäßigung, Austerität und Sozial­abbau in Verbindung gebracht wird, wird die Produktivität als ein technischer Sachzwang angesehent, an dem nicht zu rütteln ist. Vielleicht dient auch die Rifkin-Kampagne der Regierung am Ende bloß dazu, die Frage nach der Verteilung der von der dritten Industriel­len Revolution erhofften gewaltigen Produktivitätsgewinne ökologisch und kommunitaristisch zu verbrämen.

Weil die Produktivität zu einem politischen Kampfbegriff geworden ist, hat ihre Bewertung nur einen wissenschaftlichen Anschein. Unternehmer, Regierung, Gewerkschaften, internationale Institutionen und Firmen berufen sich auf jene Produktivitätsberechnung, die ihrem Standpunkt dient: die Bruttowertschöpfung geteilt durch die Zahl der Beschäftigten oder der Arbeitsstunde, im Vergleich zum Gesamtkapital, zum fixen Kapital, zum Material-, Dienstleistungs-, neuerdings beliebt: zum Energieaufwand oder als Totale Faktorproduktivität, den diffusen Rest. Die Bruttowertschöpfung über dem Bruchstrich wird stets als Konstante angesehen.

2003 hatte das Observatoire de la compétitivité ein Projekt zur Produktivitätsmessung, Luxklems, beschlossen. Als nächstes soll nun ein Conseil national de la productivité gegründet werden. Dies entspricht einer Empfehlung der Europäischen Kommission auf der Grundlage des Berichts der fünf Präsidenten über die Wirtschafts- und Währungsunion. Bei der Diskussion über das Euro­päische Semester Anfang des Jahres hatten die Gewerkschaften OGBl, LCGB und CGFP die Notwendigkeit eines solchen Gremiums in Zweifel gestellt und sich vehement dagegen gewehrt, dass dieser neue Rat in die Hände „angebotsorien­tierter Technokraten“ falle. Vielmehr gehöre die Untersuchung der Produktivitätsentwicklung von den Sozialpartnern ausgehandelt.

Doch wenn aus den Produktionsschlachten Produktivitätsschlachten werden, wird allzu gerne übersehen, wie umstritten die Produktivitätsberechnungen in der Wirtschaftswissenschaft sind, wie schwierig sie im Dienstleistungsbereich sind, wie absurd sie im nicht-warenförmigen Dienstleistungsbereich werden. Oder dass es seit Jahrzehnten heroische Kontroversen über die Ungültigkeit der Totalen Faktorproduktivitätsberechnung gibt, auf die sich der Bilan compétitivité 2017 immer wieder beruft.

Selbst wenn man volkswirtschaftliche Produktivitätsberechnungen nicht für unsinnig hält, bleibt die Frage, welche Schlussfolgerungen man aus einer als ungenügend angesehenen Produktivität ziehen soll: Ist die Arbeitskraft hierzulande zu billig, um sie durch fixes Kapital zu ersetzen? Erarbeiten bei einer im internationalen Vergleich hohen Arbeitszeit die Beschäftigten das „extensive Wirtschaftswachstum“ zu hard und nicht smart genug? Kassieren die Unternehmer lieber den größten Teil der Bruttowertschöpfung, statt sie in leistungsfähigere Anlagen zu investieren? Oder ziert sich der Staat bei der Flexibilisierung des Arbeitsrechts und der Bezuschussung von Investi­tionen? Kann andererseits die Produktivität auch zu hoch werden? In Jeremy Rifkins Traum von der Fabrik ohne Arbeiter würde die Bruttowertschöpfung durch null geteilt, und der Taschenrechner meldet: „Math Error!“

Romain Hilgert
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