Die Serie Marginal beruht auf wahren Kriminalgeschichten aus dem Luxemburger Nationalarchiv. Frédéric Zeimet und Loïc Tansons Episoden sind eine Gratwanderung zwischen ästhetischem Anspruch und Voyeurismus

„Keine Guten und Bösen in dieser schwarz-weißen Welt“

d'Lëtzebuerger Land vom 07.03.2025

Catherina Bernard, im siebten Monat schwanger, verlor ihr Kind – oder tötete sie es mutwillig, weil es keinen offiziellen Vater gab und sie es mit ihrer Schwester schwer hatte, den Bauernhof im Ösling zu bewirtschaften? Die Frauen im Dorf, maliziöse Waschweiber, zerreißen sich jedenfalls die Mäuler über sie: „Sie ist ein Luder“; „Sie hat mehr und mehr ihren Säuen geglichen ...“ War Catherina eine Kindsmörderin? In Marginal steht sie als fiktiver Charakter abermals vor Gericht. Im Abspann erfährt man, dass die junge Frau 1903 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Der doppeldeutige Titel Marginal wird als Leitmotiv begriffen. Es geht um Menschen am Rande der Gesellschaft, deren Einzelschicksale auf den ersten Blick zunächst vielleicht gewöhnlich, ja trivial wirken: Randerscheinungen, die in der Geschichtsschreibung bisher kaum Platz hatten. Den vier Folgen vorangestellt ist der Hinweis: „Diese Geschichten basieren auf Kriminalfällen aus dem Lëtzebuerger Nationalarchiv.“ Als es vor drei Jahren einen Aufruf von RTL gab, kam Frédéric Zeimet die Idee zu der Serie, nachdem er einen Artikel in der Zeitung gelesen hatte. Es ging darin um Kriminalfälle, die sich Anfang des Jahrhunderts zugetragen hatten. So ging er in die Archive „wullen“, fand jede Menge Stoff und fing an, die Fälle zu analysieren und vier herauszusuchen. Daraus entwarf der Szenarist, der unter anderen bei den Gebrüdern Dardenne studiert hat, vier Episoden.

Mag der Hype um True-Crime-Podcasts und Serien im Ausland mittlerweile eher abgeklungen sein, so peppt er in Luxemburg gerade wieder auf. Nicht nur die Schöpfer von Marginal und Servais-Preisträger Jérôme Quiqueret sind fasziniert von den „Faits divers“, auch Lokalredakteure des Wort: Sabrina Backes und Steve Remesch starteten einen True-Crime-Podcast. (d’Land,14.02.2025). Warum sind wir angezogen von wahren Verbrechen? Voyeurismus, unterdrückte Affekte, gesellschaftliche Verunsicherung? Oder ist es die Sehnsucht nach moralischen Erwägungen im allzu unmoralischen Alltag, die auch die Millennials veranlasste, mit angehaltenem Atem „Aktenzeichen XY“ zu sehen?

Balance zwischen Fakten und Fiktion

Wie viel Fiktion steckt in den Geschichten, die auf Fällen aus dem Nationalarchiv beruhen? Die Balance zwischen Fakten und Fiktion zu finden, ist nicht einfach. „Die Fälle sind wahr und das, was in Marginal geschieht, beruht auf wahren historischen Begebenheiten“, sagt Regisseur Loïc Tanson. Die Figuren, die die Zuschauer/innen von Episode zu Episode wiedersähen, das heißt den Untersuchungsrichter, Polizisten der Brigade oder den Generalstaatsanwalt Guillaume Foetz (André Jung), seien hingegen fiktive Figuren. Natürlich erfordert das vorgegebene Format von 55 Minuten pro Folge jedoch eine Konzentration auf den dramatischen Kern des Falls. Die neue True-Crime-Serie ist vollständig in schwarz-weiß gedreht – mit einem stolzen Budget von knapp vier Millionen Euro, grob eine Million Euro pro Episode also.

Das Team von 80 bis 100 Personen hat 40 Tage lang in und um Luxemburg gedreht, etwa in den Kasematten oder im Grund. Das Haus, in dem Untersuchungsrichter Henrotin sein Büro habe mit der malerischen Aussicht auf den Grund, befände sich eigentlich in Remich, erzählt Loïc Tanson. Es ist ein „Green Screen“, alles wurde nachträglich ersetzt. Die Fassade des Gerichts ist in Thionville, das Innere des Gerichtsaals ist in Neufchâteau in den Vogesen. Darüber hinaus wurde im Museum der Thillenvogtei im Rindschleiden gedreht.

Die Luxemburger Nationalarchive (Anlux) sind ein reicher Fundus. Hier findet man Hinweise und Details über vergessene Einzelschicksale; diese Fäden aufzunehmen und mit einem Wahrheitsanspruch weiterzuspinnen ist ein hehres Vorhaben.  Die Kriminalfälle der von Zeimet entworfenen und Tanson verfilmten Figuren sind bisweilen von unheimlicher Aktualität: Etwa, wenn jene Catherina Bernard (Katharina Bintz) ihr uneheliches Kind im Verborgenen abtreibt und dabei von der Dorfgemeinschaft geächtet wird oder wenn die Leiche von Jean Pommerelle, eines Homosexuellen, zerstückelt, mit abgetrennten Hoden, im Wald aufgefunden wird und die Familienangehörigen in dem Mord noch eine „gerechte Strafe“ für seine Neigungen und seinen Lebensstil sehen.

Verrußte Randerscheinungen, mittelose
Existenzen

Doch wie schon in Läif a Séil haben auch in Marginal die Frauen die Hosen an. In der ersten Episode sucht Schultz (Marie Jung) geschlagen Zuflucht bei Albert Henrotin (Jules Werner) und legt Patiencen. Den grübelnden Untersuchungsrichter Henrotin belehrt sie resolut: „Du verstehst gar nichts, Albert. Für eine Frau, die ein uneheliches Kind kriegt, gibt es keine richtige Wahl. Man kann nur verlieren.“

Die Liebe liegt im Drehbuch wie beim Dreh im Detail. Die Macher legen unter archaischen Traditionen schichtenweise eine katholische Gesellschaft frei, deren Glauben und Doppelmoral das Leben im Großherzogtum bestimmt. So folgt die Kamera Henrotin (Jules Werner stets imposant im Frack und mit Zylinder) beim Beten in der Kirche. Es sind ästhetisch ausgeklügelte Einstellungen von verwaist wirkenden Bauernhöfen im Ösling; dem Gefängnis im Grund oder malerische Aussichten über das Petrus-Tal. Über den bildschönen Profilen der Frauen liegen Schatten oder sie liegen im Schatten. Die Gesichter der Männer im Film sind verrußt, bisweilen verrucht.

Rätselhaft und geheimnisvoll ist die Filmsprache von Loïc Tanson, wie das wie ein Standbild wirkende Bild einer Greisin, die einen Schlaganfall erlitt und enigmatisch durch das Fenster eines Hofs schaut. Eine Hommage an den Film Noir? „Film Noir war tatsächlich mein größter Einfluss“, gesteht denn auch der Regisseur. Das sei eines seiner Lieblingsgenres. Von klein auf habe er immer wieder Filme wie Laura (1944) von Otto Preminger oder Hitchcock-Filme wie Double Indemnity (1944) geschaut. Sie hätten ihn nachhaltig geprägt. Daran hätten ihn von je her nicht nur das Ästhetische, sondern auch die Themen gereizt: „Da gibt es natürlich die Ästhetik von den Schatten; von den großen Kontrasten – es ist etwas, das für mich beim Titel Marginal natürlich direkt räsoniert. Es geht um alles, was im Schatten ist und was nicht im Schatten liegt. Und da lag es für mich auf der Hand, dass schwarz-weiß, dass Grautöne helfen können, die Geschichte zu erzählen“, erklärt Tanson.

In der Serie zu sehen sind bekannte Schauspieler/innen, gewissermaßen das Who-is-Who der Luxemburger Filmszene. André Jung wirkt in der Rolle des Generalstaatsanwalt Guillaume Foetz fast etwas unterfordert. Autoritär und granzeg vertritt er das altmodische Luxemburg und fordert die rasche Aufklärung der Fälle nach altbewährten Methoden. Die Schauspieler/innen sind bisweilen bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Darunter entdeckt man auch das eine oder andere Gesicht, das das Publikum wohl nicht auf der Leinwand vermutet hätten, so etwa den Schriftsteller Guy Helminger, der in Marginal den Staatsanwalt gibt. Die Maske ist so gut, dass man ihn nur an seiner sich überschlagenden Stimme erkennt. Stets grübelnd und mit dem unwahrscheinlichsten Szenario im Hinterkopf erweist sich Jules Werner als Untersuchungsrichter Henrotin als wunderbare Besetzung.

In der zweiten Episode werden Frédéric (Fritz) Bastendorff aus Diekirch, gespielt von Pitt Simon, und seine Frau Suzanne tot aus der Sauer gezogen. Bastendorff wurde im Alter von 43 Jahren wegen Mord an seiner Frau zu 20 Jahren Haft verurteilt. Jules Werner wird von Gottfried (Marie Jung) heimgesucht. Ein(e) Rächerin der entrechteten Frauen? Marie Jung liefert in der vielschichtig angelegten Rolle jedenfalls einen ihrer bisher stärksten Auftritte. Marc Baum gibt kauzig den Gerichtsmediziner Schallbach, der routiniert die Autopsien der Leichen vornimmt. Noch nicht oft auf der Leinwand gesehen hat man etwa Margarida Domingos, die in der Rolle der Anna, einem zeichnerisch begabten Bäckereimädchen, ihre Karriere für eine Familie mit Leon Clemens „opfert“.

„Es gab zunächst nicht viele Frauenrollen, aber das war eben Anfang des Jahrhunderts so. 1902 hat es keine Frauen in der Brigade gegeben. Wir haben dennoch versucht, den Gegenpart zu den männlichen Figuren zu haben, um nicht eine Männerserie zu machen“, rechtfertigt sich Loïc Tanson.

Zünglein an der Waage: die Affäre Pommerelle

Die Affäre Pommerelle in der dritten Episode wird dem Ermittler fast das Genick brechen. „Ein Freigeist, er war jemand, der nie etwas zu Ende brachte, ein Nichtsnutz“, sagt seine Schwester (Jeanne Werner, stark!) in der Serie. Die gesellschaftliche Perzeption von Homosexuellen seiner Zeit: „Päderasten sind Monster“. Der Mord wurde nie aufgeklärt und 1919 ad acta gelegt. Erst seit 1974 ist Homosexualität in Luxemburg nicht mehr strafbar, liest man im Abspann. Die Leiche von Jean Pommerelle wurde brutal zerstückelt; es sind Einstellungen brutaler Gewaltverbrechen, die als solche sehr explizit in Marginal gezeigt werden. Wie verträgt sich ästhetischer Anspruch mit Voyeurismus?

„Wir können hoffentlich einen moralischen Standard halten, der nicht dem Voyeurismus verfällt. Wir haben uns gezielt diesen Fragen mit unserem Kameramann, Nikos Welter, gestellt, wie weit und wie viel wir zeigen“, entgegnet Tanson. Die entsprechenden Fotos gäbe es in den Archiven. Von dem Zeitpunkt an, wo man so einen Fall aufrollt, habe man natürlich eine gewisse Verantwortung, dies auch genauso zu zeigen. Die Morde seien zu Beginn bereits passiert, in der Folge ginge es darum, herauszufinden, was weshalb passiert ist. „Wir wollen nicht unbedingt wissen, wer der Gute und wer der Böse war, denn es gibt keine Guten und Bösen in dieser schwarz-weißen Welt.“

Balanceakt zwischen ethischer Darstellung und Voyeurismus

In der vierten Episode wird die Affäre Colpach beleuchtet, in der es um einen 37-jährigen ledigen Mann geht – Jacques Schiltz beeindruckt hier in einer Nebenrolle. Lachend gibt er zum besten, wie das Geläster auf dem Luxemburger Land die Runde macht („De Beschass geet hei am Duerf méi séier wéi de Blëtz.“) und verweist – zu eindeutig – auf den vermeintlich Schuldigen „Holzmacher“. Auch die „Freunde“ des Opfers weisen samt und sonders auf den Holzmacher (überzeugend verkörpert Max Thommes den ungehobelten Bauern). Seine Frau (Magaly Teixeira) ist ebenfalls voller Hass auf das Opfer: „Er war ein Heuchler, der auf Kosten von seinen Mitmenschen gelebt hat.“

Henrotin ist nach der Affäre Pommerelle angeschlagen und steht unter skeptischer Aufsicht seines Vorgesetzten, des Generalstaatsanwalts Guillaume Foetz (André Jung). Er agiert wie mit gebundenen Händen, einem Maulkorb, muss alles mit seinem Vorgesetzten abstimmen.

Justiz und System hinterfragen

Wie so oft in Luxemburg kommt der frische Wind irgendwann aus Paris, verkörpert durch den aufgeweckten Leon Clemens (Timo Wagner), dessen Figur im Verlauf der vier Serien eine wunderbare Wandlung durchmacht, vom ungestümen Gehilfen Henrotins hin zum beflissenen und überlegten jungen Juristen. Weil er sieht, dass der Untersuchungsrichter keine Unterschiede zwischen Menschen, ob Bettler oder Frisör, macht, redet er, dessen Schalk in der letzten Szene verdammt an Buster Keaton erinnert, ihm ins Gewissen, nicht aufzuhören.

Sie seien auf der Suche gewesen danach, das Austarieren zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit abzubilden. Die Figur des Henrotin, der immer auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist, sei genauso angelegt worden. „Das ist nicht ein und dasselbe. Dafür ist auch die Figur des Leon Clemens da, um das große Ganze infrage zu stellen, die zentrale Frage zu spiegeln: Was ist wichtiger, Wahrheit oder Gerechtigkeit?“, sagt Regisseur Tanson.

1910 wurde die Kriminalbrigade grundlegend reformiert und professionalisiert. Ein runder Schluss, der Lust macht auf mehr! Wird es weitere Episoden geben? Die nächsten vier Episoden seien schon von Zeimet geschrieben, denn erst acht Episoden ergäben eine Staffel. Jetzt gehe es nur noch darum, die Finanzierung dafür an Land zu ziehen, verrät Tanson.

True-Crime-Staffel de Luxe

So ist Marginal weniger vom Format als von der Form her recht großes Kino. Ob es aber die Massen anzieht, gibt es ein Publikum dafür in Luxemburg? „Ich habe die Tendenz, das Publikum nicht zu unterschätzen. Ich gehe davon aus, dass, wenn die Leute reinschauen, auch dabei bleiben“, hofft Tanson. Sie hätten probiert, auf die beste und reifste Manier, Geschichten zu erzählen, in denen Emotionen liegen. Es gehe um Outsider im weitesten Sinn: „Nämlich auch um die, die sich ins gesellschaftliche Abseits setzen. Es sind Figuren, die ihren Platz in der Gesellschaft finden könnten, aber nicht versuchen, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern sich selbst treu zu bleiben“, sagt Loïc Tanson. Ihm sei es wichtig, dass Themen wie Abtreibung zeigten, dass die luxemburgische Gesellschaft einen großen Schritt nach vorn gemacht habe, aber der Schritt noch nicht groß genug sei. Damit man auf mehr wie einer Ebene überhaupt von Gerechtigkeit sprechen könne, müsse man viel größere Sprünge machen. Ob die Folgen den Eigengeist anstiften?

So hat Luxemburg jetzt eine echte True-Crime-Staffel de luxe. Die Macher zeigen menschliche Abgründe, die in jedem von uns als gesellschaftliches Wesen stecken, auf ästhetisch sehr eindrucksvolle Art und Weise – mit tollen Schauspieler/innen. In den USA brauchte es einst David Lynch, der wusste, wie der Feuilletonist Georg Seeßlen es sagte, wie man den Horizont verschiebt, indem er die Innenseiten des amerikanischen Traums auch in einer Serie als Horror zeigte. Auch Marginal hat Kult-Potenzial.

Anina Valle Thiele
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