Schule und Integration

Sackgasse

d'Lëtzebuerger Land vom 21.02.2008

Die Antwort auf die Frage, was er später einmal werden wolle, kommt wie aus der Pistole geschossen. „Doktor“, sagt Daniil* energisch. Er ist eines von vier Kindern einer russischen Flüchtlingsfamilie, die vor zwei Jahren in einem Luxemburger Flüchtlingswohnheim auf den Ausgang ihres Asylantrags wartete und die Filmemacher Yann Tonnar in seiner Dokumentation Weilerbach begleitet hat. Am Schluss gibt es ein – vorläufiges – Happy End: Nach jahrelangem Warten kommt die Aufenthaltserlaubnis. 

Daniil darf bleiben. Sein Traum vom Arztberuf da­gegen muss warten. Wenn er denn überhaupt je Wirklichkeit wird. Für die schulische Integration von Flüchtlings- und Einwandererkindern wie Daniil ist der Service de la scolarisation des enfants étrangers zuständig. Er hat dafür im Laufe der Jahrzehnte ein ganzes Arsenal an Hilfsmaßnahmen an die Hand bekommen. Die Médiateurs culturels, erstmals Ende der 90-er Jahre bei Flüchtlingen aus dem Kosovo eingesetzt, vermitteln zwischen Elternhaus und Schule: Weil viele Eltern über kaum mehr als eine Grundschulausbildung verfügen und sie oftmals kein Luxemburgisch sprechen, Elternabende aber in der Regel auf Luxemburgisch sind, können sie Hilfe anfragen. „Wir informieren über das Schulsystem, vermitteln in Eltern-Lehrergesprächen oder geben Tipps, wenn es um die Hausaufgaben geht“, sagt Elizabeth Dinis Pereira. Sie ist eine von rund 20 Mediatoren, die auf Portugiesisch, Kreolisch, Russisch, Serbokroatisch, Chinesisch, Türkisch etc. Hilfe anbieten. 

Die gebürtige Portugiesin Dinis ist, gemeinsam mit Eliane Kettels aus dem Service de scolarisation, zudem zuständig für die Organisation der classes d’insertion und der classes d’accueil, zweites wesentliches Standbein für die Eingliederung so genannter primo-arrivants. In den Spezialklassen lernen die Neuankömmlinge Französisch oder Deutsch im Intensivkurs. Viele Mütter und Väter, die hierher auswandern, wissen wenig über Luxemburg, geschweige denn über sein kompliziertes Schulsystem. Oft kommen ihre Kinder, wenn das Schuljahr längst begonnen hat. Außer den bestehenden elf Klassen mussten vier Classes d’accueil bisher zusätzlich organisiert werden, weitere Kinder stehen auf der Warteliste. „Wir hoffen, noch Schulen und Lehrern zu finden, die sie aufnehmen“, so Marguerite Krier, im Service zuständig für die Koordination der Klassen. Die Nachfrage nach den Classes d’accueil ist weiterhin ungebochen. Das bedeutet viel Organisation und Einsatz. Unter der Leitung von Christiane Tonnar wurde der Dienst in den vergangenen zehn Jahren ausgebaut, auf Stundenbasis beschäftigte Mediatoren wurden fest eingestellt, Weiterbildungen für sie und die Lehrer erarbeitet, sowie Tests in Sprachen und Mathe für die schulische Erstorientierung ausgewählt. Jugendliche, die mehr als 12 Jahre alt sind, werden neuerdings mit ihren Eltern ins Ministerium gebeten, wo sie die Cellule d’accueil scolaire pour les élèves nouveaux arrivants (Casna) empfängt. „Wir informieren über das Schulsystem und versuchen, die Kinder mit Hilfe der Tests auf die Schulen zu verteilen“, erklärt die Casna-Mitarbeiterin Eliane Kettels. Die definitive Einstufung erfolgt in den Schulen. So soll ein optimaler Schulstart möglich werden.

Wie gut das gelingt, weiß allerdings niemand so genau. Die Diagnose beispielsweise, Grundlage für die Orientierung, sei nicht durch Expertise gesichert, heißt es im Casna. Auch das Konzept der Classes d’accueil, immerhin seit Ende der 80-er Jahre landesweit im Einsatz, wurde bis auf eine Untersuchung aus dem Jahre 1993 und eine nicht veröffentlichte Einzelfallstudie nie richtig evaluiert. Weil viele Klassen aus der Not entstehen, sind nicht alle Lehrer gleichermaßen gut vorbereitet. Wegen all­gemeinen Lehrermangels springen Hilfslehrer (chargés d’éducation) ein. „Das Niveau der Klassen ist abhängig vom persönlichen Engagement“, so Christiane Tonnar. „Ideal“ seien zwar professionelle, je nach Bedarf flexibel einsetzbare Lehrerteams. Aber das sei noch Zukunftsmusik. Auf Anfrage versorgt ihr Service Lehrer mit Unterrichtsmaterial, Weiterbildungskursen und gibt darüber hinaus Gemeinden Empfehlungen zur Einschulung der primo-arrivants mit auf den Weg. 

Dafür, dass es sich beim Casna und bei den Classes d’accueil um zentrale Instrumente der schulischen Integration der Neuankömmlingen handelt, erstaunt die fehlende systematische Qualitätskontrolle. Verbesserungen sind also möglich – und notwendig. Bis zu zweieinhalb Jahren beträgt der Lernrückstand zwischen Luxemburgern und Nicht-Luxemburgern. Wobei die Herkunft nicht der einzige Grund für das miese Abschneiden ist, sondern die sozio-ökonomischen Verhältnisse fast noch wichtiger. Viele Einwandererkinder kommen aus sozial schwachen Familien, die kein Luxemburgisch können – im hiesigen System sind sie doppelt benachteiligt. 

Der Zusammenhang zwischen Armut und Bildungschancen wird von der Politik auch nicht bestritten, und doch sie bleibt noch immer hilf- und tatenlos, wenn es darum geht, grundlegende Konsequenzen zu ziehen. In Luxemburg, Einwanderungsland par excellence, kennt die schwarz-rote Koalition keine koordinierte Integrations- und Immigrationspolitik. Außen-, Wohnungsbau-, Arbeits- , Schul- und Familienministerium, jeder arbeitet in seiner Ecke. Wie wenig vernetzt gedacht wird, kann man an der geplanten Reform der Integrations- und Immigrationsgesetze ablesen: statt eine interministeriell eine Gesamtstrategie zu entwerfen, liegen zwei Gesetzentwürfe auf dem Tisch (d’Land vom 18.01.08).

Da wundert es nicht, wenn die sozialistische Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres sich in ihrem Verantwortungsbereich in Schadensbegrenzung übt, mit ähnlich eingeschränktem Blickfeld. Ihre Losung, um Schülern insgesamt zu besseren Bildungschancen zu verhelfen, lautet „mit der Heterogenität umgehen lernen“: indem Lehrer künftig in Lehrzyklen und mit Kompetenzen arbeiten. Wie das geht, weiß aber noch niemand so genau. Der Aktionsplan Sprachenunterricht soll helfen, die schwierige Sprachensituation besser in den Griff zu bekommen; das Ministerium hat dafür eine Plattform ins Leben gerufen und sogar einen Berater engagiert. Aber obwohl für 2007 versprochen, liegen noch immer keine Ergebnisse vor. 

Ob die 60 Sprachaktionen helfen werden, die schulische Benachteiligung der Einwanderer- und Arbeiterkinder abzubauen, ist ohnehin fraglich – solange nicht andere Fragen geklärt sind: die Wahl der Unterrichtssprachen oder der Alphabetisierung beispielsweise. Geht es nach den Volksparteien, ist der Weg klar: Ziel des Luxemburger Schulsystems ist und bleibt die Dreisprachigkeit, Luxemburgisch soll als Vorbereitung für die Alphabetisierung auf Deutsch dienen, in der Berufsschule überwiegt Deutsch. Ob das auch die beste Lésung für die tausende romanophonen Kinder ist, ist aber nicht so sicher. „Es ist wissenschaftlich nicht erwiesen, welche Alphabetisierung für welches Kind die bessere ist“, so Romain Martin, Bildungsforscher von der Uni Luxemburg. Die hohen Sitzenbleiberquoten bei den kapverdischen und portugiesischen Kindern und ihr höherer Anteil an den niedrigen Schulzweigen sprechen eine deutliche Sprache: Hier läuft etwas grundsätzlich schief. 

Ein anderes Schlagwort aus dem Sprachenaktionsplan heißt „Muttersprache zu validieren“. Doch auch hier fehlt Konkretes, zudem ist der Ansatz bei Sprachexperten umstritten: Manche fürchten, durch das Einbeziehen der Muttersprache würden die vom dreisprachigen Unterricht arg in Anspruch genommenen Kinder endgültig überfordert. Die Gründung der Laborschule Eis Schoul, die neue Formen des Sprachenunterrichts ausprobieren soll, beweist vor allem eines: Obwohl die Dreisprachigkeit nach wie vor proklamiertes Ziel ist, das prinzipiell auch für die Zuwanderer Gültigkeit haben soll, ist der Weg dahin selbst Experten ein Rätsel. Die Ratlosigkeit setzt sich in der Lehrerausbildung fort. „Wir lernen nicht genug über differenziertes Unterrichten. Außerdem fehlen uns Informa-tionen darüber, was die Schüler aus der Grundschule mitbringen“, so die Klage eines angehenden Sekundar-Französischlehrer. Die Ausbildung der Vor- und Grundschullehrer wurde mit der Einführung des Bachelors zwar generalüberholt und baut laut dem Verantwortlichen Charles Max auf dem Grundsatz auf, „dass wir es mit Kindern mit sehr unterschiedlichen sprachlichen und sozialen Hintergründen und Bedürfnissen zu tun haben“. Bis die neue Generation von Lehrern, mit mehr Kenntnissen möglicherweise in Spracherwerbsprozessen, Fremdsprachendidaktik und differenzierten Lehrmethoden, unterrichtet, wird es noch dauern. 

Das Problem der schulischen Integration ist freilich nicht auf Luxemburg beschränkt. In ganz Europa machen sich Experten Gedanken, wie den neuen Generationen von Einwandererkindern beim Lernen am besten zu helfen ist. Klassische Einwanderungsstaaten, wie die USA und Kanada, sind da schon weiter. Dort arbeiten Wissenschaftler seit Jahren zu Integrations- und Immigrationfragen. Wegen der starken Zuwanderung durch spanischsprachiger Migranten bieten immer mehr US-Bundesstaaten bilingual education an; bilingual experts mit Master-Diplom in cross-cultural oder bilingual education organisieren die Alphabetisierung und Ein­gliederung der newcomers. In Kanada heißt die zweite Generation der Einwanderer bezeichnenderweise nicht Ausländer, sondern Second Generation Canadians, eine wertvolle Ressource, die es gilt, beim gemeinsamen Nation Building optimal einzusetzen. Dass das keine hohlen Phrasen sind, zeigen Hilfen zum Wohnen, zweite und dritte Bildungschancen und auf Einwanderer zugeschnittene Eingliederungsprogramme in den Arbeitsmarkt – und nicht zuletzt das formidable Abschneiden bei Pirls und Pisa. 

In Luxemburg dagegen tun sich Politiker und Pädagogen weiterhin schwer, eine Gesamtstrategie für das marode und unzeitgemäße Bildungssystem auf die Beine zu stellen: Pilotprojeke wie Eis Schoul sind erste Versuche, umzudenken. Außer im Modell wagt sich jedoch niemand ernsthaft an das eigentliche Tabu heran, die Selektionsmechanismen. Für die These, die das Team um Bildungsforscher Romain Martin am Dienstag in Rahmen der Auftaktveranstaltung des neuen Konferenzzyklusses École de demain in Walferdingen vorstellte, gibt es hinreichend Indizien: Das „konservativ-korporatistische“ Luxemburger Schulsytsem, wie es die Wissenschaftler in Anlehnung an den dänischen Soziologen Gösta Esping-Andersen beschreiben, sei vor allem auf die Kinder der Luxemburger Mittelklasse zugeschnitten. Die kri­tisiert vielleicht die Pisa-Ergebnis­se, kann im Zweifelsfall aber gut mit ihnen leben: Ihre Kinder kommen einigermaßen erfolgreich durchs System. Die frühe Orientierung, die hohen Sprachanforderungen, das 60-Punkte-Notensystem, das Fehlen von landensweiten Ganztagsschulangeboten, werden allenfalls in abgeschotteten Arbeitsgruppen im Ministerium oder an der Universität hinterfragt. 

„Wenn man die Ausländer aus den Statistiken rausrechnen würde, hätten wir ein exzellentes Schulsystem“, schlug ein luxemburgischer Journalist, halb im Ernst, halb im Scherz beim Glas Ehrenwein im Anschluss an die Konferenz vor. Es gibt eben nicht nur ein Problem mit „bildungsfernen“ Einwanderern, sondern auch mit einer bürgerlichen Mittelschicht, die allen Gleichheitsversprechen zum Trotz vom Bildungssystem profitiert. Und die vielleicht gar nicht will, dass russische, kapverdische und andere Kinder nicht-luxemburgischer Herkunft eines Tages hierzulande Doktor werden.

Ines Kurschat
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