Jean-Claude Juncker, früherer Premier und EU-Kommissionspräsident, über Aufrüstung, die US-Handelspolitik und China

 

„Ich habe zweimal verhindert, dass sich die Rüstungsindustrie hierzulande niederlässt“Treaty Override

Jean-Claude Juncker in  seinem Büro im Staatsministerium
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 14.03.2025

d’Land: „Der größte europäische Erfolg, die größte Leistung bleibt die Tatsache, dass wir den Frieden in Europa erhalten konnten“, haben Sie 2019 in Ihrer Abschiedsrede im Europäischen Parlament gesagt. Wenn Sie von Krieg sprachen, dachten Sie vor allem an binneneuropäische Konflikte. Haben Sie die Bedrohung durch Großmächte von außerhalb unterschätzt?

Jean-Claude Juncker: Die Bedrohungen von außerhalb habe ich gerochen, aber nicht ausreichend beachtet.

Wann begannen Sie, diese festzustellen?

2001 sagte Putin unter Standing Ovations im Bundestag, der Kalte Krieg sei zu Ende. Ich hatte fast freundschaftliche Beziehungen zu ihm; wir haben häufig telefoniert. 2008 habe ich eine erste Kehrtwende vernommen, aber sie nicht ernst genommen. Das mache ich mir zum Vorwurf. Ich mache mir allerdings nicht zum Vorwurf, dass wir gute Beziehungen zu Russland und Putin aufbauen wollten. Mittlerweile habe ich ihm mehrmals gesagt, dass ich von ihm enttäuscht bin.

Und was hat er darauf geantwortet?

Seine Politik sei auf die Fehler der Europäer zurückzuführen. Und dann hat er mir diese aufgezählt. Die meisten sogenannten Fehler habe ich beanstandet, nicht alle. Ab 2008 zeigte er immer weniger Interesse daran, diplomatische Lösungen zu finden. Heute lese ich in der internationalen Presse, dass meine Kommission im Umgang mit Russland naiv war. Hätte ich mich allerdings 2015 hingestellt und gesagt, wir hören auf, ein auskömmliches Verhältnis zu Russland zu pflegen, wäre es zu einem öffentlichen Aufruhr gekommen. Nur aus heutiger Sicht kann man behaupten, wir hätten durch Naivität gesündigt.

Einst war der Euro undenkbar, jetzt besteht er seit über 20 Jahren. Werden wir in ein paar Dekaden ähnlich auf die Schaffung einer europäischen Armee zurückblicken?

Ich habe 2015 unter Protestgeheul der meisten europäischen Länder in einem Interview mit der Welt gesagt, dass man eine europäische Armee aufbauen muss. Diese Idee hatte keine Zustimmung gefunden, obwohl die Krim zu dem Zeitpunkt bereits besetzt war. Damals waren unter anderem die Franzosen nicht von meinem Vorschlag begeistert. Was beanstandeten die anderen Regierungschefs?

Die vielen technischen Probleme, die es zu lösen gilt. In Europa gibt es 174 Waffengattungen, in Amerika 34. Viele europäische Staaten kaufen zudem amerikanische Modelle. Das Beschaffungswesen im Militärbereich muss gestrafft und besser organisiert werden. Die Herausforderungen sind enorm. Darüber hinaus befürchtete man 2015, eine europäische Verteidigungspolitik könnte nicht nur in Russland, sondern auch in den USA auf Widerstand stoßen. Denn die Amerikaner befürworteten keine europäische Armee in der NATO.

Kommen wir auf das Verhältnis der Luxemburger zu ihrer Armee zu sprechen. 1867 wurde das Großherzogtum infolge der „Luxemburgischen Krise“ entmilitarisiert...

…mit den Erfolgen, die uns aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg bekannt sind.

... die Zwangsrekrutierung im Zweiten Weltkrieg war eine traumatisierende Erfahrung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nur kurzzeitig ein obligatorischer Militärdienst eingeführt.

Historisch betrachtet hat Luxemburg ein distanziertes Verhältnis zur Armee, und der obligatorische Militärdienst fand keine breite Zustimmung. In vielen Familien ist das Militär negativ besetzt, was ich gut nachvollziehen kann, denn mit meinem Vater und seinen Brüdern haben wir mehrfach über ihre Zeit als Zwangsrekrutierte gesprochen. Die Wehrpflicht wurde 1967 von dem CSV-Abgeordneten Jean Spautz abgeschafft, dem Vater von Marc Spautz, mit dem ich heute zu Mittag gegessen habe. Damals hat die Aufhebung zu großer Aufregung innerhalb der NATO geführt, weil wir die ersten waren, die den Militärdienst abgeschafft hatten. Das folkloristische Bild der luxemburgischen Armee hängt auch mit der Größe des Landes zusammen; die Luxemburger sind Realisten, sie wissen, dass sie in einem kleinen Land leben. Zu Zeiten des Kalten Krieges befanden die Luxemburger, es spiele bei Auseinandersetzungen mit dem Ostblock keine Rolle, ob sie eine Armee haben oder nicht. Ich war 1967 in der Septième und war froh, keinen Militärdienst absolvieren zu müssen.

Wenn Sie dieser Tage morgens die Zeitung aufschlagen, sind sie mit einem neuen Aufrüstungsdiskurs konfrontiert.

Gefühlsmäßig finde ich mich in diesem nicht zurecht. Ich hätte nie gedacht, eines Tages sagen zu müssen: „Europa muss aufrüsten.“ Das macht mich traurig. Wenn ich jedoch beobachte, was sich im Osten des Kontinents tut, komme ich zu dem Fazit, dass wir wehrhaft sein müssen. Insofern befürworte ich die Entscheidung des Europäischen Rates, 800 Milliarden in die Verteidigungspolitik zu investieren. Als junger Mensch und Regierungsmitglied habe ich für Abrüstung plädiert – eine Haltung, mit der ich in meiner Partei auf Ablehnung stieß. Übrigens, als ich in die Kammer einzog, waren die Kommunisten mit Fraktionsstärke in der Chamber vertreten.

Und die waren für die Abschaffung der Armee.

Ja, und die Grünen traten einst für die Abschaffung der NATO ein. Unter der Dreierkoalition hatten sie jedoch das Verteidigungsministerium inne. Offenbar führte das mit Blick auf ihre Parteigeschichte zu keinen Gewissenskonflikten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte man Abrüstung fordern, weil man von der Friedensdividende profitierte – heute ist das anders. Die Geschichte gleicht einem Perpetuum mobile, und man weiß nie, an welchem Drehpunkt man sich gerade befindet. Trotz mancher Bedenken war ich stets ein Befürworter der NATO.

Unterschätzen die Abgeordneten möglicherweise die Tatsache, dass Luxemburger ein distanziertes Verhältnis zur Armee und Rüstungsindustrie haben? Hat die Chamber Rückhalt in der Bevölkerung?

Das ist nicht relevant.

Für das Wahlergebnis der ADR ist es relevant.

Was die ADR denkt und fühlt, ist unerheblich. Mit dem Motto, die europäischen Armeen müssten ihre Verteidigungsbereitschaft nach unten schrauben, läuft die ADR nicht weit. Denn Luxemburger haben ein nachvollziehbar schwieriges Verhältnis zur eigenen Armee, aber sie haben kein schwieriges Verhältnis zur europäischen Verteidigungspolitik. Das mag nun luxemburgische Offiziere enttäuschen, aber der Wunsch, verteidigungsbereit zu sein, hat nichts mit der Luxemburger Armee zu tun. Aus unserer historischen Erfahrung heraus akzeptieren wir nicht, dass Freiheiten von einem einfallenden Staat niedergetrampelt werden.

Ist Luxemburg demnach ein militärischer Trittbrettfahrer?

Die Luxemburger Armee ist nicht auf eine national-territoriale Verteidigung ausgerichtet, aber innerhalb des NATO-Bündnisses handelt die Luxemburger Armee solidarisch. Als ich Premierminister war, wurden beispielsweise Luxemburger Soldaten in den Kosovo geschickt – das war kein Spaziergang! Was die Budgetfrage anbelangt, werden wir unsere Ausgaben anpassen müssen. Aber ich frage mich, wo das Geld hinfließen soll: Wollen wir ernsthaft in Erwägung ziehen, Panzer und Bomben zu produzieren? Als Premier – das habe ich damals nicht öffentlich thematisiert – habe ich zweimal verhindert, dass sich die Rüstungsindustrie hierzulande niederlässt. Die Aufrüstungsdebatte wird überstürzt geführt.

Man könnte in die für die Cybersicherheit nützliche Software investieren?

Das machen die anderen Länder auch. Aber eine richtige Rüstungsindustrie, die Drohnen, Panzer und Munition produziert, haben wir nicht, werden wir auch nicht bekommen, und wünsche ich mir nicht. Also bleibt die Option, bei befreundeten Nachbarn zu investieren, wie in Belgien. Dort hat man eine Return-on-Investment-Produktion aufgestellt, von der auch wir profitieren könnten.

Sie wissen, wie sprunghaft Donald Trump reagieren kann. Kommt die Abkehr der Amerikaner von der Bündnissolidarität insofern überraschend?

Sie ist für mich keine Überraschung. Trump hat auf Europa eine total verdrehte Sicht. Er kennt die Geschichte der Europäischen Union nicht. Er ist der Ansicht, die Europäische Union sei eine Erfindung, um gegen die Interessen der Amerikaner vorzugehen. Sein Bild von Deutschland ist nahezu feindselig. Er behauptete, Deutschland handele anti-amerikanisch.

Wegen des deutschen Autoexports?

Zum Beispiel. Als ich 2018 in Washington war, meinte Trump, er würde allzu häufig deutsche Autos auf amerikanischen Straßen sehen. Dabei wird eigentlich ein Großteil dieser Autos in Amerika hergestellt. Um den Handelskonflikt zu schlichten, habe ich ihm vorgeschlagen: Null Zölle auf die Einfuhr europäischer Autos, null Zölle auf den Export amerikanischer Pkws. Das hatte er so auch in seinen öffentlichen Verlautbarungen gefordert. Unter vier Augen hat er das allerdings ausgeschlagen, mit dem Argument, die europäischen Autos seien konkurrenzfähiger als die amerikanischen. Als Christdemokrat darf ich einen Kommunisten wie Lenin zitieren: Man muss die Dinge hinter den Dingen sehen. In diesem Fall sind die Dinge hinter den Dingen die Tatsache, dass Trump eine Null-Zölle-Politik abgelehnt hat.

Nun steht der Handelskonflikt erneut vor der Tür.

Die Verhandlungen mit Trump 2018 waren extrem aufreibend. Stundenlang haben wir rumgemurkst. Letztlich konnten wir damals den Handelskrieg abwenden. Aber nun beginnt er erneut, Zölle einzuführen, weil er denkt, dass er damit die innenpolitischen Verhältnisse zu seinen Gunsten verbessern könnte. Und er erhofft sich eine Ansiedlung von europäischen Unternehmen in Amerika. Was nicht unwahrscheinlich ist, da das europäische Großkapital keine besonders warmen Gefühle für irgendetwas hegt. Man muss versuchen, das zu unterbinden, aber der Markt hat sich derart liberalisiert, dass das nicht einfach wird. Mit Trump kann man allerdings verhandeln, er ist kein Politiker, der sich in den Verästelungen der internationalen Verträge auskennt. Er will einen Deal – er ist ein Geschäftsmann, der nahezu aus Versehen in die Politik geraten ist.

Sie zeichnen ein Bild von einem Trump, der nicht ideologisch denkt. Manche Analysten meinen, seine zweite Amtszeit verankere einen oligarchischen Monopolkapitalismus – auf Wunsch von Tech-Milliardären und Investoren. Und falls man sich nicht selbst schaden wolle, sollte Europa nicht ständig auf Appeasement setzen …

Als Europäer bekämpfen wir die Tech-Oligarchen, zum größten Ärger von Trump und den ihn umkreisenden Großkapitalisten. Wir dürfen nicht nachlassen.

Können wir dem Druck standhalten?

Wir wehren uns. Wenn die Tech-Jungs gegen bestehendes Gesetz verstoßen, bringen wir sie vor Gericht. Wir wehren uns gegen das Tech-Großkapital-Diktat, weil es nicht dem europäischen Denken und Wesen entspricht. Wenngleich ich auch hier mit Sorge beobachte, dass das Kapital sich immer häufiger in die Politik gewählter Regierungen einmischt. Man muss den neoliberalen Ansturm gegen das Arbeitsrecht bremsen. Das Kollektivvertragswesen soll man ernst nehmen und nicht durchlöchern.

Das heißt, sie sind enttäuscht von ihrer Partei, die vorschlug, Kollektivverträge nicht notwendigerweise mit Gewerkschaften abzuschließen?

Ich wäre so nicht vorgegangen und ich werde diese Entwicklung nicht kommentarlos mitansehen.

Die USA reagieren argwöhnisch auf die Anwesenheit von chinesischen Banken. Das wird ihnen dadurch erleichtert, weil Luxemburg von der amerikanischen Fondsindustrie abhängig ist.

Ich habe das nie so erlebt. Die chinesischen Banken habe ich nach Luxemburg geholt, da wir unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu China verbessern wollten. China nehme ich schon lange als Großmacht ernst. Was mich mehr beschäftigte, waren die unorthodoxen Methoden, die sich auf unserem Finanzplatz breitmachten. Für mich war klar, dass es zu negativen Konsequenzen führen wird, wenn man sich an seinen Nachbarn bereichert, indem man bestimmte Regeln umgeht. Deshalb haben wir dem in der Kommission mit 24 steuerpolitischen Direktiven entgegengewirkt.

Könnte es hierzulande zu Turbulenzen kommen, wenn Trump die Bitcoin-Industrie umkrempelt?

Ich nehme das mit spöttischem Lächeln zur Kenntnis. Man kann nicht ernsthaft glauben, dass artifizielle Währungen offizielle Währungen ersetzen können. Das wird scheitern. Bitcoins, die keiner Zentralbank unterliegen und die keinen Regeln unterworfen sind, scheinen mir ein Privathobby von Herrn Trump zu sein.

Wird sich das Verhältnis zu China zwangsläufig verändern?

Man darf nicht naiv sein. Als Kommissionspräsident war ich erbost darüber, dass China seine eigene Industrie, vor allem die Stahlindustrie, hochgradig subventioniert und diese zugleich in Europa ungehindert investieren konnte, während europäische Unternehmen von China ausgebremst wurden. China bringt zudem durch hohe Schulden afrikanische Staaten in seine Abhängigkeit. Den chinesischen Präsidenten habe ich 2019 in Paris zuletzt gesehen und ihm gesagt, die Chinesen seien unsere Handelspartner aber unser systemischer Rivale. Eine Entkoppelungspolitik sollte man gegenüber China allerdings nicht anstreben.

Diese könnten die USA uns aber vielleicht aufzwingen wollen?

Die USA verhalten sich derzeit gegenüber Europa auf eine Weise, die uns nicht dazu verleitet, sie blindlings zu kopieren. Unsere Chinapolitik ist eine andere.

Stéphanie Majerus, Bernard Thomas
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