In seiner Rede zur Lage der Nation lieferte Premierminister Xavier Bettel kaum Antworten auf die dringenden Fragen unserer Zeit. Statt tiefgreifende Strukturreformen durchzuführen, verteilt die Regierung Almosen

Geschenkt

Xavier Bettel und francois Bausch
Foto: Anthony Dehez
d'Lëtzebuerger Land vom 15.10.2021

Nolauschtertour In den vergangenen Wochen hatte Premierminister Xavier Bettel von der Demokratischen Partei sich sozialmedienwirksam auf „Nolauschtertour“ begeben und hielt sich wie die CSV „bei de Leit“ auf. Mit Paulette Lenert (LSAP) besuchte er ein Krankenhaus und ein Impfzentrum, mit Corinne Cahen (DP) stattete er einer Beschäftigungsinitiative und einer Struktur für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung eine Visite ab. Mit Claude Meisch (DP) ging er in eine Grundschule, mit Lex Delles (DP) in ein Hotel und in einen Zero-Waste-Laden, mit Romain Schneider (LSAP) auf einen Bauernhof. Alleine begab er sich in eine Maison relais und in eine Berufsschule. Dazwischen sprach er vor der UN-Vollversammlung in New York und traf den EU-Ratspräsidenten Charles Michel. Überall führte er mit den Menschen tiefsinnige Gespräche. Sie teilten ihm ihre Sorgen mit, wie ein Schwamm saugte der Premierminister sie auf. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck ging er zurück in sein Ministerium, schloss sich in sein Büro ein und schrieb seine Rede zur Lage der Nation. So suggeriert es ein Trailer, den Bettel am Montag unter dem Hashtag #edln2021 auf Twitter veröffentlichte. Am Dienstag stellte er sein 46-seitiges Meisterwerk dem Parlament vor. Es trägt den bedeutungsschwangeren Titel: Eise Wee. Eist Zil.

Es war Bettels dritte Rede zur Lage der Nation in dieser Legislaturperiode und seine achte insgesamt. Seit seiner ersten Ansprache 2014 (mit rund 107 300 Zeichen in der schriftlichen Version) war es auch seine längste (mit 96 700 Zeichen). In Lëtzebuerg stäerken, Chancen notzen a Perspektive schafen (90 000 Zeichen) ging es im Oktober 2020 fast ausschließlich um die sanitären und wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19. Am Dienstag knüpfte Bettel wieder an seine Rede Weider maachen amplaz weidermaachen von 2019 an.

Damals wie heute stand die Klimakrise im Vordergrund seiner Ansprache, damals wie heute widmete der Premierminister ihr fast zehn Seiten, nur dass die Rede am Dienstag mehr als doppelt so lang war wie die vom 8. Oktober 2019 (mit 45 700 Zeichen). Ein weiterer Unterschied zu damals ist, dass sich die Regierung in dem von der EU-Kommission geforderten Klimaplan inzwischen hehre und hohe Ziele gesteckt und ein Klimagesetz verabschiedet hat, das sie zur Einhaltung dieser Ziele verpflichtet. „Noch haben wir einen langen Weg vor uns“, stellte Bettel am Dienstag fest, denn noch ist weitgehend unklar, auf welchem konkreten Weg die Regierung ihre Klimaziele erreichen will.

Sozialdialog Ein neuer Bürgerrat für Klimafragen, den der Premierminister einberufen will, soll die Regierung auf ihrem langen Weg begleiten. Dieser Bürgerrat soll sich aus 100 Mitgliedern zusammensetzen, die „die demographische Realität Luxemburgs und damit die Bevölkerung repräsentieren sollen“. Die Erkenntnisse, die im Bürgerrat gewonnen werden, sollen im Parlament diskutiert werden. Mit der Klima-Plattform und dem Observatorium für Klimapolitik hatte die Regierung bereits im Klimagesetz verbindlichere Gremien geschaffen, die ähnliche Funk-tionen erfüllen sollen. Erst am Montag hatten die drei national repräsentativen Gewerkschaften OGBL, LCGB und CGFP sich in einer gemeinsamen Mitteilung darüber beklagt, dass sie lediglich über die Salariatskammer mit zwei Vertreter/innen in der Klimaplattform repräsentiert sein sollen, während die Unternehmer- und Investorenverbände sieben Vertreter/innen stellen.

Die Einrichtung eines Bürgerrats lässt dann auch darauf schließen, dass der Sozialdialog als Garant für den sozialen Frieden zwar erhalten werden soll, wie Bettel betonte (Ende des Jahres soll eine Tripartite stattfinden), künftig könnte er allerdings nicht mehr nur die klassischen Sozialpartner Salariat und Patronat, sondern verstärkt auch Menschen aus anderen zivilgesellschaftlichen Bereichen einschließen.

Bürgerbeteiligung und ein breiter Sozialdialog scheinen wichtiger denn je. Selten zuvor gingen so viele Menschen auf die Straße wie in den vergangenen Jahren: Nicht nur wegen des Klimawandels, auch wegen der Wohnungsnot mit ihren sozialen Folgen und zuletzt auch immer häufiger wegen der Corona-Maßnahmen. Weil alle diese dringenden Probleme aber nicht ohne drastische Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen gelöst werden können und der liberale Finanzminister Pierre Gramegna sein Versprechen einer großen Steuerreform aus diversen Gründen nicht einlösen kann, hat die Regierung nun beschlossen, den Zorn und die Enttäuschung des Volkes mit Almosen zu besänftigen.

Gratis Nach dem Erfolg des gratis öffentlichen Transports, der Einführung von 20 Stunden gratis Kinderbetreuung und gratis Schulbüchern sollen Kinder aus Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen künftig zusätzlich in der Schule gratis eine warme Mahlzeit bekommen. In der Grundschule soll flächendeckend eine gratis Hausaufgabenhilfe angeboten werden und ein Großteil der Musikkurse soll künftig ebenfalls gratis sein. Ab der nächsten Rentrée soll auch die Maison relais während der Schulzeit gratis sein (selbst wenn manche Gemeinden es nicht einmal schaffen, allen Kindern einen Platz anzubieten). Insgesamt kommt das Wort gratis 13 Mal in Bettels Rede vor; auffällig ist, dass vor allem der liberale Bildungsminister Claude Meisch die Spendierhosen angezogen hat. Doch auch die liberale Familienministerin Corinne Cahen lässt sich nicht lumpen. Ab Januar 2022 hebt sie die Teuerungszulage um mindestens 200 Euro an und koppelt das Kindergeld wieder an den Index, dies sogar rückwirkend zur nächsten Indextranche in diesem Oktober.

Wohnen wird hingegen nicht gratis, ja nicht einmal billiger, was eine wirkliche Entlastung der Haushalte dargestellt hätte, sondern immer teurer. Daran wird sich auch in den kommenden Jahren nichts ändern. Das in der Verfassung verbriefte (Natur-)Recht auf Eigentum wird nicht angerührt, doch mit einer Spekulationssteuer sollen all jene bestraft werden, die ihr Land absichtlich unbebaut und ihre Wohnungen unbewohnt lassen und damit „immer reicher werden“. Also nicht jene, „die in ihren eigenen vier Wänden leben“, sondern die, „für die das Wohnen lediglich ein Spekulationsobjekt ist“. Was mit den unzähligen Eigentümer/innen passieren wird, die ihr Land und/oder ihre Wohnungen lediglich zurückhalten, damit ihre Nachkommen es besser haben als sie? Man darf gespannt sein. Nach dem Pacte logement 2.0 werde mit dieser laut Bettel „mutigen Entscheidung“ ein weiterer „Paradigmenwechsel“ in der Wohnungsbaupolitik eingeläutet. Bis zu Bettels nächster Rede zur Lage der Nation sollen der liberale Finanzminister, die sozialistische Innenministerin Taina Bofferding und der grüne Wohnungsbauminister Henri Kox einen Gesetzentwurf zur allgemeinen Reform der Grundsteuer liefern, die der Spekulationssteuer als Berechnungsgrundlage dienen wird.

Um den Impfskeptiker/innen und Corona-Leugner/innen den Wind aus den Segeln zu nehmen, will die Regierung sich von der OECD in einer unabhängigen Studie noch einmal bescheinigen lassen, dass sie die Krise gut bewältigt hat.

Ping-Pong Mit der Rede zur Lage der Nation wurde wie bereits in den vergangenen beiden Jahren die neue Kammersession eröffnet. Erstmals seit 18 Monaten trafen die Abgeordneten sich wieder im Sitzungssaal auf dem Krautmarkt. Die Grünen trugen gelbe Nelken am Revers, weil die Sonnenblumen aus waren. Die Sozialisten hatten sich statt roter Nelken die edleren roten Rosen angesteckt. Der sozialistische Minister für soziale Sicherheit und Landwirtschaft, Romain Schneider, der bereits vor drei Wochen angekündigt hatte, 2023 auf eine Kandidatur zu verzichten, war nicht zur Rede der Lage der Nation erschienen; er musste offenbar dem europäischen Rat für Landwirtschaft und Fischerei beiwohnen. Außenminister Jean Asselborn war wenig überraschend auch nicht da. Paulette Lenert war hingegen gekommen, obwohl an dem Tag ein informeller Rat der Gesundheitsminister/innen stattfand, an dem sie anschließend über Videokonferenz teilnahm. Vizepremier Dan Kersch, der 2023 ebenfalls nicht mehr Minister werden will, musste nach einer Stunde gehen. Seinen Platz neben dem Premier nahm Innenministerin Taina Bofferding ein.

Am Mittwoch begann mit den Debatten dann wieder das übliche rhetorische Ping-Pong-Spiel zwischen Mehrheit und Opposition, das die Regierungsparteien seit drei Jahren meist knapp mit 31 zu 29 gewinnen. Die CSV hat den größten Schläger im Parlament, sie hat ihn in den vergangenen beiden Tagen nicht ungeschickt eingesetzt. Immerhin hat sie nicht nur Kritik geübt, sondern 50 konkrete Vorschläge in den unterschiedlichsten Bereichen vorgelegt und ihr neues Narrativ einer ideologiefreien Partei „bei de Leit“ konsequent weitergesponnen. Ob ihre 50 konkreten Vorschläge patentere Lösungen als die der Regierung für die gesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel, Wohnungskrise und soziale Ungleichheit liefern, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Luc Laboulle
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