Demokratie-Übungen in der Schule

Wie die Großen

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

Aufmerksam hört Clara, 11, der Frage des Präsidenten zu. Wer dafür sei, dass geborgte Kleider wieder zurück an ihrem Platz geräumt werden sollen, will der kleine Mann mit der lustigen Baseballmütze von den im Sitzkreis versammelten Schülern wissen. Clara stimmt mit Ja. „Das nervt mich auch, wenn ich meine Sachen nicht wieder finde.“ Es ist Freitag 11 Uhr, in der Brideler Teamteachingklasse SAM. Zeit für das Klassenparlament, das einmal wöchentlich tagt. Hier können die Jungen und Mädchen Probleme diskutieren und gemeinsam nach Lösungen suchen – was sie fleißig tun. 

Dafür tragen sie ihre Anliegen in die Themenliste am blauen Wandschrank ein, der den Klassensaal von der Lehrerecke trennt. Das kann ein Lob oder eine Anregung sein, aber auch eine Kritik. Dass sie mit ihren Vornamen unterschreiben müssen, stört die Kinder nicht: „Dann weiß ich, woher die Kritik kommt und kann das besser einschätzen“, meint der elfjährige Luc. Seine Sitznachbarin Clara musste sich an die ungewohnte Prozedur erst gewöhnen. „Am Anfang hatte ich Angst und fühlte mich irgendwie ausgeliefert“, erzählt sie. Das Gefühl sei aber rasch verflogen. Es gibt noch einen pädagogischen Grund, warum nur unterschriebene Themen angenommen werden: „Es geht darum, faires Feedback zu üben und sich nicht hinter der eigenen Meinung zu verstecken“, erklärt Klassenlehrerin Annick Lemmer. Eine Grundregel der Schuldemokratie.

Gemeinsam mit ihren beiden Kollegen hat Lemmer das Klassenparlament in der Teamteaching-Klasse eingeführt. Am Anfang gab es Kritik: von Erwachsenen. „Manche Kollegen haben gemeint, wir könnten doch keine ganze Unterrichtsstunde dafür hergeben“, erinnert sich Lemmer. „Aber alles, was die Kinder dort ansprechen und lösen, belastet später nicht die Klassenatmosphäre“, wirft Kollegin Simone Kiesch ein. Sie und Marc Bodson, der dritte Lehrer, setzen sich seit Jahren dafür ein, dass die Schüler Demokratie im Schulalltag erfahren lernen. „Das gehört zur Erziehung mündiger, autonomer und solidarischer Menschen dazu und ist für unsere Art des Arbeitens unverzichtbar “, betont Bodson. Schüler lernen so, offen azusprechen, was sie stört oder was sie sich anders wünschen, sie vertreten ihre Interessen mit und gegen andere – und kümmern sich um mögliche Lösungen. 

Was zu Beginn noch unregelmäßig geschah, ist inzwischen durchorganisiert. Nach jeden Schulferien wählen die Jungen und Mädchen ihren Parlamentsvorsitz neu: Es gibt eine Präsidentin oder einen Präsidenten, der die Sitzung leitet, eine/n Sekretärin und eine Beisitzerin respektive einen Beisitzer. Er wacht darüber, dass die Spielregeln eingehalten werden und keine Wortmeldung übersehen wird. Die mehrheitlich getroffenen Entscheidungen werden in einem Ordner fein säuberlich abgeheftet. „So wissen wir, was schon mal dran war“, erklärt Luc, der zugibt, sich in den Sitzungen manchmal zu langweilen: „Wenn auf der Tagesordnung etwas steht, was wir schon x-mal besprochen haben.“ Oder wenn etwas im großen Plenum diskutiert wird, was nicht die Klasse, sondern eher einzelne Schüler betrifft. Auf das Klassenparlament verzichten will Luc aber auf keinen Fall. „Das ist unsere Stunde, hier können wir sagen, was uns beschäftigt“, brummt er zufrieden. 

Vom geplanten Klassenfest über Regeln fürs Fußballturnier bis hin zur gewünschten Skaterpiste – den Themen sind keine Grenzen gesetzt. So ruhig und geordnet wie heute, wo jeder brav in seiner Bank sitzt, geht es aber nicht immer zu. „Wir hatten schon schwierigere Phasen“, erinnert sich Annick Lemmer. Eine Religionslehrerin kam nicht auf Anhieb mit der Klasse zurecht, und die Schüler nicht mit ihr. Als der Streit zu eskalieren drohte, wurde das Klassenparlament eingeschaltet. Dort sitzen normalerweise die Lehrer wie die Schüler im Sitzkreis und müssen mit ihrer Wortmeldung warten, bis sie an der Reihe sind. Im Konfliktfall können sie sogar von der Klasse überstimmt werden. Beim Streit mit der Religionslehrerin allerdings gaben die Erwachsenen die Richtung vor: „Wir haben ihnen deutlich gemacht, dass es gewisse Regeln des Umgangs gibt“, sagt Marc Bodson. Die Mitbestimmung habe ihre Grenzen, die hierarchischen Strukturen – hier die Erwachsenen, dort die Kinder – sind durch das Parlament nicht völlig außer Kraft gesetzt. Aber immerhin: Die Schüler können mit reden – und im Konfliktfall wird verhandelt.

Ehrlichkeit und Respekt wird auch sonst groß geschrieben. Der anonyme Kummerkasten wurde zugunsten der öffentlichen Wandtafel, wo jeder jede Kritik nachlesen kann, abgeschafft. „Jetzt kommt nicht jede Beschwerde zehn Mal dran“, sagt Lemmer. Das Verfahren ist aber ähnlich geblieben: Auf Vordrucken kann man ausfüllen, was man „sich wünscht“, was man toll findet. Respekt im Umgang mit den Klassenkameraden war auch das Leitmotiv der Anti-Mobbing-Kampagne, an der die Schule vor kurzem teilnahm. Als Kinder aufgrund ihrer Herkunft verspottet und gehänselt wurde, diskutierte der Klassenrat, was es heißt, zum Außenseiter abgestempelt zu werden. „Für uns ist der Klassenrat eine Fortsetzung des Konflikttrainings. Es geht um den respektvollen Umgang und darum Wege zu finden, wie Interessengegensätze oder Konflikte gewaltfrei gelöst werden können“, so Simone Kiesch. Nicht nur streitsüchtige Schüler, auch Lehrer bekommen ihr Fett weg. Zum Beispiel, wenn sie etwas versprechen und es nicht halten. Einmal versprach das Lehrertrio, wenn die Klasse sich mit dem Aufräumen beeile, würde man anschließend die beliebte Mediathek besuchen. Weil plötzlich noch anderes dazwischen kam, fiel der versprochene Gang einfach aus. Den Schülern platzte der Kragen. „Beim nächsten Parlament wurden wir auf den Topf gesetzt“, gibt Bodson lächelnd zu. 

Das Klassenparlament des Obergrads ist nicht die einzige demokratisch gewählte Schülervertretung in Bridel. Einmal im Jahr wählen sämtliche Schulklassen ihre Vertreterin oder ihren Vertreter für das Schulparlament. Dieses Jahr hat Luc den Posten inne, und obwohl er durch die alle drei Wochen stattfindende Versammlung manchmal ein wenig nacharbeiten muss, macht er den Job gerne: „Da erfährt man, was in anderen Klassen los ist und kann Dinge entscheiden, die die gesamte Schule betreffen.“ Bisher hat er seine Klasse gut vertreten können, ist er überzeugt. Aber wenn er mal anderer Meinung ist als seine Klassenkameraden? „Na, dann muss ich ihre Meinung akzeptieren, wenn ich überstimmt werde“, sagt er wie ein Profi. 

Kürzlich haben er und seine Kollegen überlegt, einen Brief an die Gemeinde zu schreiben, um endlich eine Skaterpiste durchzusetzen. Beim Fußballplatz im Schulhof hat die Zusammenarbeit mit den „Großen“ ganz gut geklappt. „Der Bürgermeister hat nicht immer Zeit, aber er nimmt unsere Wünsche ernst“, freut sich Luc und weiß noch ein Beispiel: Als sich der Hundedreck auf der Wiese vor der Schule häufte, sodass an Spielen im Grünen nicht mehr zu denken war, schrieb das Schulparlament der Gemeinde eine Beschwerde – mitsamt Verbesserungsvorschlägen. Der Bürgermeister fand die Initiative so gut, dass er den Brief kurzerhand in der gemeindeeigenen Zeitung veröffentlichte. „Das war super“, freut sich Luc. Ab diesem Herbst will der Gemeinderat ein Kinder- und Jugendparlament auf die Beine stellen. 

Damit die Schuldemokratie klappt, müssen auch die Lehrer ihren Teil dazu beitragen. Bis vor kurzem organisierte Lemmer gemeinsam mit einer Kollegin das Schulparlament, was einigen Zeitaufwand bedeutete. Die Verbindung zwischen den Klassen und dem übergeordneten Schulparlament, in dem die gewählten Klassensprecher über Probleme beraten, die die ganze Schule betreffen, klappte nicht optimal. „Weil nicht jede Klasse ein Parlament hatte, wussten manche Klassensprecher beim Schülerparlament nichts zu berichten“, so Lemmer. Der Informationsfluss lief erst besser, als die Lehrer beschlossen, dass sämtliche Klassen ihr Parlament bekommen sollen. „Mein jüngerer Bruder, der auf dieselbe Schule geht, hat früher immer über unser Parlament gelästert. Jetzt hat er auch eins und findet es mega-cool“, strahlt Clara.

Ines Kurschat
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