Angst ist ansteckend. Um durch Zuhausebleiben und soziale Distanz nicht zu vereinsamen oder (zu) niedergeschlagen zu sein, bauen Notrufe und psychologische Dienste ihre Angebote aus

Hilfe gegen die Angst

d'Lëtzebuerger Land du 27.03.2020

„Ich war 27 Jahre in Isolationshaft. Tipps, wie man die Zeit allein übersteht.“ Solche martialischen Vergleiche mit extremen Haftbedingungen in Gefängnissen, wie sie US-amerikanische Zeitungen angesichts der Coronakrise anstellen, sind unangebracht; immerhin kann die Bevölkerung trotz amtlich verhängtem Ausnahmezustand hierzulande weiterhin vor die Tür gehen, nur eben im streng limitierten Rahmen. Trotzdem warnen Luxemburger PsychologInnen davor, dass Homeoffice und Homeschooling und mit dem Coronavirus verbundene Existenzängste Folgen für die Psyche haben.

Bei SOS Détresse steht das Telefon seit Tagen nicht mehr still: Rund ein Drittel mehr Anrufe verzeichnet der Notruf laut Leiter Sébastien Hay seit Beginn der Corona-Pandemie. Die meisten Anrufer wünschen Rat, wie mit den Sorgen und Ängsten umgehen, die der Virus in ihnen auslöst. Bei vielen habe sich „das Sozialleben eingeschränkt oder verändert“. Termine konnten nicht eingehalten, Routinen und Gewohnheiten mussten aufgegeben werden, beobachtet Hay, der gemeinsam mit einem Team aus Ehrenamtlichen am Telefon die Stellung hält.

„Hinter der Angst steht das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Tatsächlich weiß niemand, wie lange die Krise dauern wird“, erklärt Magali Cahen den Gemütszustand vieler. Die Psychologin, die in Luxemburg-Stadt ihre Praxis hat, hat wie viele ihrer KollegInnen auf Video- und Whatsapp-Konferenzen umgestellt, um sich und die Klienten vor Ansteckung zu schützen und trotzdem in Kontakt zu bleiben. Wer sich Sorgen macht, krank zu werden, dem empfiehlt sie, zu prüfen, wie realistisch die Ängste sind: „In der Realität zu bleiben, ist wichtig.“ Klienten mit Angststörungen behandelt Cahen mit EMDR, das steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, also die Desensibilisierung durch Verarbeitung durch angeleitete Augenbewegungen. Die Behandlung funktioniere über Video „erstaunlich gut“.

Kontrollverlust im Alltag Susanne Stroppel, Psychologin und Psychotherapeutin in Wasserbillig, weist auf drei „psychologische Grundbedürfnisse“ hin, die in Zeiten von Corona zu kurz kämen. Durch die strengen Ausgangsbeschränkungen seien Bindungen zu Familienangehörigen und Freunden „nicht mehr in derselben Form aufrechtzuerhalten“ wie vorher. Das verstärke Gefühle von Einsamkeit, Depressionen und Kontrollverlust. „Man fühlt sich unwohl und kann das nicht ausgleichen“, so Stroppel, weil Aktivitäten, die sonst fürs innere Gleichgewicht dienen, wie Sport, Kino oder Theater, nicht mehr im selben Umfang möglich seien. „In der Folge steigt der Stress. Und wer den nicht gut regulieren kann, läuft Gefahr, diese Zeit schlechter durchzustehen als andere“, warnt Stroppel. Manche suchen Halt in der Sucht. Mit ihren KlientInnen versucht die Psychologin, destruktive Lösungsmuster anzusprechen und Alternativen zu finden, die das Selbstbewusstsei gezielt aufbauen. „Das kann zum Beispiel Nachbarschaftshilfe sein“. Indem sine anderen Menschen helfen, bekämen sie Anerkennung, blieben aktiv und „tun zudem etwas Sinnvolles für die Gemeinschaft“, rät Stroppel.

Wer sich in diesen Tagen überfordert fühlt, aber nicht zum Psychologen gehen möchte, kann die Hotline 8002 9090 des Erziehungsministeriums anrufen. Dort stehen neben Pädagogen, die Tipps zum Fernunterricht geben, zusätzlich Psychologen Eltern und Schülern zur Seite. Die Broschüre @home hält ein paar Faustregeln für die Zeit zuhause parat. Das Gesundheitsministerium arbeitet zudem mit anderen daran, das psychosoziale Hilfsnetz enger zu stricken, bestätigt Mareike Bönigk, Leiterin des psychosozialen Dienstes der Fonction publique. Ihr Lesetipp für Menschen, denen daheim die Decke auf den Kopf fällt: Das Kit de confinement des belgischen Psychologen Frédéric Frenay (www.triggersolutions.eu) bietet praktische Tipps, wie sich Stress besser verarbeiten lässt, um sich trotz Coronavirus und Ausgangsbeschränkungen zu konzentrieren, zu schlafen und den Alltag strukturiert anzugehen.

Kit de confinement Denn die Mehrfachbelastung, die insbesondere durch die Schließung von Schulen und Kindergärten auf Mütter und Väter entsteht, ist enorm. Das zeigen Kommentare, die sich in sozialen Medien wie Facebook und Twitter häufen. Psychologin Susanne Stroppel ermahnt Lehrer und Eltern in ihrem Blog: Nehmt den Druck heraus! Eine Stunde Hausaufgabe pro Fach ist zu viel, demotiviere bloß und riskiere, Schüler und Eltern an ihre Grenzen zu bringen: Nicht jede ist zur Lehrerin geboren, und die Erwachsenen geradeso wie die Kinder müssen sich an die neue Situation erst gewöhnen. „Das ist Belastung genug.“

Manche suchen Hilfe im Internet – und werden dort fündig. Derzeit kursiert ein Video der Ex-Vorsitzenden der deutschen Piratenpartei und heutige Grünen-Politikerin, Marina Weisband, Diplom-Psychologin. Sie erklärt mit ruhiger Stimme, wie sich Angst und Stress daheim regulieren lassen. Zu viel Druck kann im schlimmsten Fall zu Frust, Wut und Aggressionen führen. In Familien und bei Erwachsenen, wenn das Nervenkostüm zu gewöhnlichen Zeiten bereits angespannt ist, Ausweichmöglichkeiten eng und Lösungen kompliziert sind, kann die Stimmung durch die unfreiwillige Quarantäne verschlechtern und plötzlich umschlagen.

Soziale Schere Um diesen Kindern (und ihren Eltern) beizustehen, hat der Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires (C/Sepas) seine Kapazitäten neu gebündelt. Bisher sei „die Situation normal“. Es gebe nicht mehr Anfragen, noch nicht, sagt Alioune Touré dem Land auf Nachfrage. Der Psychologe koordiniert die psychologischen Dienste der Lyzeen im Land und findet: Die Gefahr der Überforderung, gerade von Eltern, die die sprachlichen und technischen Möglichkeiten nicht haben, die für guten Fernunterricht nötig sind, sei reell. Großfamilien müssen mehrere Kinder versorgen. Nicht jeder Haushalt hat Internetzugang oder Eltern können bei den Aufgaben nicht helfen, weil sie selbst nicht genug vom Fach verstehen. Sorge bereitet dem Cepas-Psychologen auch, dass, je länger der Fernunterricht anhält, der soziale Graben zwischen Schülern sich zu vertiefen droht. Familien seien, je nach Ressourcen, unterschiedlich gut in der Lage, ihre Kinder in schulischen Belangen zu unterstützen. „Ich fürchte, durch die Coronakrise könnten sich die in Luxemburg ungleich verteilten Bildungschancen weiter verschlechtern“, warnt Alioune Touré. Die Schulpsychologen versuchen, Vorkehrungen zu treffen und sind proaktiv: Schülern, die vor dem vorläufigen Schul-Aus schon Hilfe benötigten, werden möglichst individuell betreut. Das heißt, Pädagoginnen und Psychologen stehen per Email und Telefon zur Verfügung. Außerdem wurden die Online- und Video-Kapazitäten ausgebaut. Das Cepas-Team ist auch über Facebook erreichbar. Hausbesuche sind indes nicht erlaubt. Alioune Touré appelliert zudem an die Jugendlichen direkt: „Meldet euch, wenn es Euch oder Mitschülern nicht gut geht!“

Mehr häusliche Gewalt Wer sich anderen Erwachsenen als den Eltern anvertrauen will, kann die 116 111 des Kanner- a Jugendtelefons anrufen. In schlimmen Fällen, bei häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen, helfen Polizei oder Frauennotruf. In China, berichteten Polizisten und Frauenorganisationen, habe während der Corona-Quarantäne die häusliche Gewalt deutlich zugenommen: Im eigenen Haus gefangen, ohne soziale Kontakte, seien Frauen ihren gewalttätigen Partnern schutzlos ausgeliefert.

„In Luxemburg haben wir bisher keinen Anstieg der Gewalt beobachtet“, sagt Femmes-en-detresse-Leiterin Andrée Birnbaum. Das sei möglicherweise aber nur eine Frage der Zeit. Frauennotruf und Frauenhäuser seien „rund um die Uhr“ in Alarmbereitschaft. „Trotz Ausgangsbeschränkungen ist es Opfern von Gewalt selbstverständlich erlaubt, ihren gewalttätigen Partner zu verlassen“, betont Birnbaum. Frauen, die in diesen Zeiten von zuhause fort wollen, können sich bei organisation@fed.lu oder telefonisch unter 44 81 81 melden. Über soziale Netzwerke ist Femmes en détresse nicht präsent; dafür aber ist Foyer Sud (Frauenhäuser) auf Twitter präsent.

Die Verletzlichsten, also Alte, Frauen und Kinder, in der Krise zu erreichen, gehört jetzt zu den großen Herausforderungen: „Sie sind eingesperrt, von anderen abgeschottet und Täter haben noch besseren Zugriff“, sorgt sich Birnbaum. Dienste, die sich speziell um Kinder in gewalttätigen Familien kümmern, arbeiten wohl mit reduzierter Präsenz, seien aber alle erreichbar. Familien in Not, und besonders deren Kinder, werden vom Office de l’enfance weiterhin betreut, deren Familienhelfer nur im Ausnahmefall Hausbesuche abhalten dürfen, mit gebotenem Sicherheitsabstand und Hygienevorkehrungen.

Was ist mit den Alten, die im Heim sind oder zuhause und die keinen Besuch empfangen dürfen, um sich nicht anzustecken? Senioren und Menschen mit Immunschwächen und anderen Vorerkrankungen gelten als besonders schutzbedürftig. Neben den Angehörigen und den Fachkräften der Pflegedienste könnten Nachbarn nach ihnen gucken: „Das kann via Internet sein, wenn das den Älteren liegt. Aber auch ein Anruf hilft, und es gibt den Postweg, damit sie nicht vereinsamen“, rät Therapeutin Magali Cahen.

Hilfe für die Helfer Noch eine Personengruppe könnte bald psychologische Unterstützung brauchen: Personal, das die Corona-Patienten betreut. Auf Ärzte und Krankenpflege lastet viel Verantwortung, um Corona-Infizierte angemessen medizinisch zu betreuen. „Erfahrungsgemäß lässt sich so ein Stress zwei bis maximal drei Wochen aushalten“, sagt Mareike Bönigk vom psycho-sozialen Krisenstab der Regierung. In Luxemburg ist die Zahl der Corona-Infizierten, die im Krankenhaus oder auf der Intensivstation behandelt werden müssen, noch gut zu bewältigen, doch das könnte sich ändern. Die Erfahrungen im französischen Grand-Est, in Spanien und in Italien zeigen, an welche traumatische Grenzen das Gesundheitspersonal stößt, werden medizinische Ressourcen knapp. Das Gesundheitsministerium arbeitet derzeit mit Hochdruck daran, für die Helferinnen und Helfer ein solides psychologisches Angebot auf die Beine zu stellen. Auch Patienten und ihre Angehörigen benötigen womöglich psychologische Begleitung. Die rigide komplette Abschottung von Familienangehörigen im Krankenhaus, zu ihrem eigenen Schutz, ist in der Regel eine überaus belastende Erfahrung.

Ines Kurschat
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