Ein Gesellschaftsexperiment namens Lockdown

Die neue Normalität

d'Lëtzebuerger Land vom 27.03.2020

Ödnis Kalter Ostwind fegt durch die Fußgängerzone. Von weitem schallen Hip-Hop-Beats aus einem Ghettoblaster. Ein Polizeiwagen fährt im Schritttempo durch die menschenleere Straße, verscheucht die Tauben. Dunkle Schaufenster, heruntergelassene Gitter. Den Waren fehlen die Kunden, denen sie verführerische Blicke zuwerfen könnten. Lediglich am Ende der Grand-Rue steht ein älteres Paar. Eine Frau mit grauen Haaren und goldenen Ohrringen sagt zu einem Mann in langem Mantel: „Se hunn alles zougemaach – och den Oberweis.“

Seit fast zwei Wochen steht das gesellschaftliche Leben in Luxemburg wie im Rest von Europa still. Restaurants, Bars, Geschäfte und Boutiquen haben geschlossen. Das öffentliche Leben ist fast zum Erliegen gekommen. Nur noch vereinzelte, als „systemrelevant“ titulierte Unternehmen, die sich vorwiegend auf den Lebensmittelverkauf spezialisiert haben, können ihrem Gewerbe nachgehen. In der Hauptstadt lassen sich einige letzte Mohikaner zwischen heruntergelassen Rollläden ausmachen. „Wir harren aus, so lange es geht“, sagt ein Verkäufer in einem kleinen Feinschmeckerladen in der Oberstadt. Er trägt keine Handschuhe und auch keinen Mundschutz. Wer ihn darauf anspricht, erhält lediglich ein resignierendes Achselzucken als Antwort.

Wilhelm II. grüßt von seinem Pferd. Er wacht als homme providentiel in Bronze über den Knuedler, so wie er es seit 1884 tut. Auch an diesem Mittwoch kann er zusehen, wie Händler ihre Geschäfte am Marktplatz aufbauen. Doch viele Kunden finden sich nicht auf dem Platz ein. Beim Käsehändler stehen zwei Personen, beim Olivenhändler niemand. Immerhin: Beim Gemüsehändler haben sich sieben Personen in einer Reihe an den markierten Linien am Boden im Abstand von zwei Metern eingefunden. Zwei tragen Atemschutzmasken, alle Handschuhe. Das Highlight: Minister François Bausch (Grüne) fährt auf seinem Rad vorbei. „Et ass awer gutt hei baussen an der Sonn“, sagt ein älterer Mann zu einem ihm entgegenkommenden Passanten.

Gesellschaft als Organismus Als die dramatischen Bilder und Neuigkeiten aus Norditalien sich über die digitalen Medien verbreiteten, handelten die Politiker Europas nicht geschlossen, aber doch nach ähnlichem Muster. Sie wendeten sich an Experten und Spezialisten, es übernahmen die Virologen und Mediziner. Und die handelten so, wie es Mediziner tun. Sie bekämpfen das globale Virus wie ein Krebsgeschwür. Der Organismus wird mit einer Therapie stark geschwächt, damit sich die ungesunden Zellen nicht verbreiten. Die Therapie wirkt sich jedoch auf den gesamten Körper aus. Daher sind nicht nur kranke Zellen betroffen, sondern auch gesundes Gewebe stirbt ab. Das gilt es, als üblen Kollateralschaden im „Rennen“ oder „Krieg“ gegen das Virus hinzunehmen.

Um die gesundheitliche Krise einzudämmen, um Menschenleben zu retten, haben die Politiker demnach beschlossen, die Krise auszuweiten auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Corona hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einer totalen Krise entwickelt. Die Politik hat die Mobilität eingeschränkt, die Menschen nach Hause geschickt, die Wirtschaft gedrosselt. Mit „zitternden Knien“ hat der LSAP-Abgeordnete Mars Di Bartolomeo deshalb seinen Bericht zum Gesetz über den État de crise vorgetragen. Ein Ausnahmezustand, welcher der Exekutive weitreichende Befugnisse erteilt, die in einem demokratischen Rechtsstaat eigentlich nicht vorgesehen sind. Mit „Bauchschmerzen“ hat Oppositionsführerin Martine Hansen (CSV) dem Notstandsgesetz zugestimmt (siehe S. 5).

Die Regierung vertraut gerade, wie nahezu alle Regierungen, auf flatten the curve und führt ein nie dagewesenes gesellschaftliches Experiment durch. Die Entschleunigung soll die Ursache des Problems bekämpfen, mit gigantischen Wirtschaftspaketen sollen die Auswirkungen und Nebeneffekte der Therapie kontrolliert werden, damit nicht zu viel gesundes Gewebe Schaden nimmt. In theoretischen Modellen funktioniert das Prinzip der Kurvenausdehnung ganz gut, in der Realität wird es gerade erst erprobt. Laut Experten wird das Gelingen davon abhängen, wie lange sich der Ausnahmezustand aufrechterhalten lässt, ohne dass Panik entsteht – ohne dass der Rest des Organismus kollabiert.

Entfremdung Das Leben hat sich seither ins Private verlagert. Die Straßen sind leer, Geisterzüge fahren durchs Land (siehe S. 8), keine Flugzeug-trassen sind am derzeit blauen Himmel zu sehen. Fahrradfahrer können sich so entspannt über die Straßen bewegen wie noch nie – sogar die Fahrt über den Boulevard Royal wird zum Vergnügen. Und an Abenden ist es selbst in urbanen Gegenden so still wie sonst nur in zivilisationsfernen Wäldern und Naturschutzgebieten. Wahrscheinlich lernt jeder seine Umwelt gerade mit einem neuen, fremden Blick kennen – fast so, als hätte der Künstler Gerhard Richter sie leicht verfremdet gezeichnet.

Wer noch direkte menschliche Kontakte sucht, findet sie in der letzten Bastion des öffentlichen Lebens: dem Supermarkt. Der Gang in den Supermarkt erinnert in diesen Tagen an den Besuch eines Popkonzerts, wird zum gesellschaftlichen Happening. Menschen mit Masken, Handschuhen, aber eleganter Kleidung warten geduldig und leicht euphorisiert vor dem Eingang in Schlangen von zwei Meter Abstand. Security-Männer mit breiten Schultern halten sie davor zurück, die Hallen zu stürmen. Der Einkauf wird zum Abenteuer, bei dem es darum geht, die wenigen Restprodukte zu ergattern, ohne jedoch einen Fremden zu berühren oder dessen Atem zu spüren. Der letzte Akt besteht darin, gekonnt an den KassiererInnen vorbeizukommen.

Auch für das Personal an den Kassen hat sich die Situation verändert. „Ich merke, dass die Menschen mich anders wahrnehmen“, sagt Dolcina. Sie sitzt seit einigen Jahren an der Kasse eines bekannten Großwarenladens. Manche Einkäufer versuchen, sie vollkommen zu meiden, betrachten sie quasi als Gefahr. Doch viele andere würden nun eine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, die sie überrasche, geradezu berühre. „Viele sagen einfach nur Danke.“ Sie habe bereits kleine Geschenke erhalten. Doch sie mache sich auch Sorgen: „Wenn ich ehrlich bin, würde ich am liebsten nicht hier sitzen.“ Sie weiß, dass sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist, „es“ zu bekommen, wie sie das Virus bezeichnet – trotz Plexiglaswand, Desinfektionsmittel und Handschuhe.

Ein Virus geht viral Doch während das öffentliche Leben in der realen Welt zum Stillstand gekommen ist, tummeln sich die Menschen im Netz. Die Internetprovider müssen gegen einen dramatischen Anstieg der Netzverkehrs ankämpfen, versuchen, den reibungslosen Fluss irgendwie aufrechtzuerhalten. Auf Facebook, Twitter, Instagram, Tik Tok oder Whatsapp schicken die Menschen sich lustige Katzenvideos, Coronawitze oder sonstigen Quatsch hin und her. Sie führen aber auch sachliche, wenn auch monothematische Gespräche. Zeitungen und Onlinemedien können sich über einen nie dagewesenen Leseransturm erfreuen. Künstler, Musiker und Literaten verlagern ihre Kunst ins Netz. Und selbst auf der Onlinedating-Plattform Tinder ist der Verkehr, anders als man vielleicht annehmen könnte, nicht eingebrochen. Im Gegenteil: Tinder erfreut sich über einen Boom und wird genutzt, um Onlinetreffen mit zufälligen Bekanntschaften auf Whatsapp oder Skype zu vereinbaren.

Die Gesellschaft hat sich erstaunlich schnell der neuen Welt angepasst, selbst die konservativsten Unternehmen merken gerade, dass Home office nicht nur eine lose Idee in Parteiprogrammen, sondern tatsächlich machbar ist. Das Internet wird zum Refugium für soziale Kontakte und für das öffentliche Leben. Und wenn es etwas gibt, das den Ausnahmezustand möglichst lange aufrechterhalten kann, dann sind es die Internetprovider mit stabilen Verbindungen für Smartphones und Laptops.

Doch nicht nur das Internet verbindet gerade die Menschen – auch das eigentlich totgeglaubte Festnetz. Laut Angaben der Post telefonieren die Menschen auf ihrem Handy oder im Festnetz so viel wie schon lange nicht mehr. Viele fühlen sich an ihre Jugend in den Siebzigern und Achtzigern erinnert, als sie als Teenager stundenlang mit Freunden quatschten, bis die Eltern genervt die Leitung kappten. Und die jüngere Generation lernt gerade, wozu das Smartphone eigentlich ursprünglich gedacht war – zum Telefonieren.

Pol Schock
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