Luxemburg und die Postliberalisierung

Der Inselstaat

d'Lëtzebuerger Land vom 21.06.2007

Das war dann doch ein schöner Moment für Kommunikationsminister Jean-Louis Schiltz (CSV): Als Parteifreund Lucien Thiel am Dienstagnachmittag in der Abgeordnetenkammer die entsprechende Anfrage stellte, konnte der Minister von gleich drei „neuen Elementen“ in der Auseinandersetzung um die Postliberalisierung berichten. Sie könnten der EPT und ihrer Postdivision zugute kommen.

Dabei war es eigentlich eine ziemliche Pleite, die Schiltz einzugestehen hatte. Denn am Tag zuvor hatte sich bewahrheitet, was die Grünen am Mittwoch vergangener Woche aufgeregt meldeten: Luxemburg sei dabei, seine „Chance auf einen Briefpost-Deal zu verspielen“. Diese Chance hatte bisher darin bestanden, dass Schiltz im EU-Ministerrat für eine vollständige Befreiung der EPT vom letzten Liberalisierungsschritt eintrat, der das noch bestehende Monopol für Briefsendungen bis 50 Gramm brechen würde. Laut EU-Postdirektive von 1997 müsste dieser letzte „reservierte Bereich“ am 31. Dezember 2008 EU-weit aufhören zu existieren.

Doch zehn der 27 Mitgliedstaaten haben ein Problem damit. Bei seinem Treffen am 7. Juni zerstritt der Ministerrat sich in der Postfrage endgültig, und mit Frankreich gehört einer der wichtigsten Mitgliedstaaten zu den Liberalisierungsskeptikern. Da konnte die Verteidigung Luxemburger Interessen leicht  scheinen.

Aber das Europaparlament entscheidet bei dem Thema mit. Und EP-Berichterstatter Markus Ferber war gelungen, was seinem Parteifreund von der bayerischen CSU, dem deutschen Wirtschaftsminister Michael Glos, im Ministerrat nicht glückte. Ferber brachte im EP-Transportausschuss, der federführend ist bei der Behandlung der Liberalisierungsfrage, am Dienstag letzter Woche zunächst die Vertreter der drei größten Fraktionen hinter seinen Kompromissvorschlag: Marktöffnung ab Anfang 2011 statt Anfang 2009, für New Europe sowie für Griechenland ab Anfang 2013. Plus einige Zusatzklauseln, etwa zum Sozialschutz.

Am Montag dieser Woche stimmte dem Paket der gesamte Ausschuss zu. Damit hatte sich für Luxemburg die Hoffnung auf eine generelle Ausnahme seiner Post politisch so gut wie erledigt. Denn Ferbers Kompromiss ist nicht nur die Vorstufe zur Abstimmung im EP-Plenum am 11. Juli. Ebenso ist er für die Minister ein Anker in einer festgefahrenen Diskussion. Das sah auch Jean-Louis Schiltz am Dienstag in der Abgeordnetenkammer nicht viel anders, als er einräumte, Luxemburg sei im Rat „isoliert“ und den Bis-50 Gramm-Bereich halten zu wollen, sei „illusorisch“.

Die Regierung hätte gegenüber dem Europaparlament stärker agieren müssen, meint der grüne Abgeordnete Claude Turmes. Womöglich stimmt das. „Mer hunn och Kontakt opgeholl mam Rapporteur vum Europa-Parlament“, sagte Premier Jean-Claude Juncker, als er am 9. Mai in seiner Erklärung zur Lage der Nation kurz auf die Postliberalisierung einging. Was Markus Ferber „verwundert“: „Ich habe Herrn Juncker zwei Monate lang hinterher telefoniert, aber er war für mich nicht zu erreichen. Und dann kommt Herr Schiltz und will den reservierten Bereich erhalten haben!“, so Ferber zum Land.

Falls nicht der EU-Gipfel dieser Tage außer der Reihe eine Ausnahme für Luxemburg beschlossen hat, weil Juncker mit Kanzlerin Merkel vergangenen Sonntag im Senninger Schloss einen Post-Deal eingefädelt hat, ruht die verbleibende Hoffnung nun vor allem darauf, dass sich in der Plenar-Abstimmung in Straßburg im Juli möglichst viele Abgeordnete dem Antrag anschließen, den auf Initiative der CSV-Abgeordneten Astrid Lulling „die gesamte Fraktion der Europäischen Volkspartei“ einbringen werde, wie Jean-Louis Schiltz gleich zweimal im Parlament betonte. Er wird in die Richtung gehen, Luxemburg dieselbe Zusatzfrist zuzugestehen wie Griechenland und den neuen Mitgliedstaaten.

Wie die Abstimmung ausgeht, wird man abwarten müssen. „Wir sind ja sonst eigentlich immer für eine sehr liberale Politik“, sagt Astrid Lulling. Da falle es auf, wenn Luxemburg eine Extrabehandlung wünscht. Die europäischen Grünen hatten schon am Dienstagmorgen angekündigt, Luxemburg zu unterstützen, wollen nun sogar einen eigenen Antrag einbringen, der dem Großherzogtum den 50-Gramm-Bereich weiterhin zugestehen will, und sich dem EVP-Antrag erst anschließen, falls der eigene keine Mehrheit findet. In der sozialistischen Fraktion könnte deren Vizepräsident Robert Goebbels eine erfolgreiche Überzeugungsarbeit zumindest für den EVP-Antrag zu leisten vermögen. Die EU-Kommission habe zudem signalisiert, dass man über „Fristen“ zur Umsetzung „reden“ könne, freute Jean-Louis Schiltz sich am Dienstag. Mit ein bisschen Fantasie und gutem Willen kann man sich die Perspektive 2013 beinah als Sieg der CSV ausmalen.

Dabei stellt sich, auch wenn Luxemburg in den Rang eines Inselstaates gehoben würde, vor allem die Frage, wie die Post auf die neue Zukunft vorbereitet werden könnte. Insbesondere, wenn es um die flächendeckende Grundversorgung der Bevölkerung mit bezahlbaren Dienstleistungen geht, den so genannten Universaldienst.

Die EPT-Direktion hält sich zurzeit völlig mit Kommentaren zurück. Allerdings ist die wirtschaftliche Perspektive des Universaldienstes nach der Marktöffnung EU-weit nicht klar; vor allem deshalb ist die Diskussion im Ministerrat so schwierig. Auch die Berater von PriceWaterhouseCoopers waren in einer 2006 für die EU-Kommission verfassten Studie nicht im Stande, Empfehlungen zur Finanzierung des Universaldienstes zu machen, erhoben aber seinen eventuellen Abbau zur Begleitmaßnahme der Liberalisierung: Es sei nötig, „d’évaluer, si les obligations de service universel, telles qu’elles existent aujourd’hui, seront toujours pertinentes et appropriées dans un marché libéralisé“.

Produktivitätsgewinne seien möglich durch Schließung von Postämtern, Verkleinerung der Zustellhäufigkeit und Tarifanpassungen. In diesem Sinne sind die Bilanzen jener EU-Staaten, in denen die Postmärkte bereits komplett geöffnet sind, nicht ermutigend: In Schweden etwa, wo 1993 liberalisiert wurde, kam die Preisentwicklung nur den großen kommerziellen Kunden zugute, nicht den Haushalten und den Klein- und Mittelbetrieben. Eine Studie der schwedischen Regulierungsbehörde zeigte, dass zwischen 1998 bis 2003 fünf große Kunden von Preisnachlässen um bis zu 50 Prozent profitiert hatten, aber gleichzeitig die Tarife für Briefe bis 20 Gramm für Haushalte und KMU um 30 bis 50 Prozent gestiegen waren. Die Zahl der Postämter sank von 1 934 im Jahr 1990 auf 440 im Jahr 2006. Gleichzeitig öffneten bis 2006 an die 1 800 Post-Boutiquen in Supermärkten und Tankstellen, 1 000 „Brief-Punkte“ in Läden und 775 Franchise-Shops der schwedischen Post. Obwohl die Öffnungszeiten heute besser sind als früher, meinte das Swedish Institute of Growth Policy Studies in einer Studie vom September 2005, dass die Zahl der einstigen „richtigen“ Postämter nicht zu vergleichen sei mit den heutigen Läden, denn die Services beider Systeme seien „absolut nicht zu vergleichen“.

In Großbritannien wurde der Briefpostmarkt Anfang 2006 frei gegeben. Eine erste Zufriedenheitsanalyse des Regulateurs Postcomm im Oktober 2006 hob hervor, dass gewerbliche Kunden mehrheitlich eine verbesserte Qualität und günstigere Preise anerkannten. Das Netz befindet sich in Umstrukturierung: von 18 300 Postämtern im Jahr 2000 gab es Ende 2006 noch 14 300, und „lebensfähig“ sei man, so Royal Mail, erst mit 4 000 Ämtern.

Luxemburg dagegen sei „un des, si ce n‘est le pays de l’Union européenne, où garantir ainsi que financer le Service universel postal est le plus difficile dans le cadre d‘un marché complètement ouvert“, urteilte Gonzalez Alcantara, ein Experte für die wirtschaftliche Modellierung von Post- und Telekombetrieben, in einer Studie im Auftrag der EPT. Denn 70 Prozent der Briefpost kämen von ganzen hundert Kunden. Die seien leicht abzuwerben, zumal Luxemburg klein ist, die Postgesellschaften der Nachbarländer „dynamisch und expansiv“ und bereits präsent auf dem hiesigen Markt seien. Dass die EPT ihren bis dahin größten Einzelkunden, das Amt für Veröffentlichungen der EU-Kommission, im Bereich über 50 Gramm kürzlich an eine Filiale der belgischen Post verlor, sei symptomatisch.

Ungeachtet aller bisherigen Outsourcing-Maßnahmen, die PriceWaterhouseCoopers ziemlich vorbildlich genannt hatten (d’Land, 27.10.2006), liege das große Problem der Post in ihrer Gehälterstruktur: Seien die Gehälter um 50 bis 100 Prozent höher als im EU-Vergleich, könnten Konkurrenten, die Grenzgänger zum Mindestlohn beschäftigen, den öffentlichen Betrieb EPT womöglich sogar ganz aus dem Markt drängen.

Denkbar sei durchaus, dass ihr Marktanteil auf nur vier Prozent sinke, falls die Post den aufwändigen Universaldienst nicht mehr aus dem lukrativen Bis-50 Gramm-Geschäft querfinanzieren kann. Um die Kosten zu decken, könnte die Post gezwungen sein, den Standardbrief-Tarif von heute 50 Cents auf 2,50 Euro zu heben. Sehr zur Freude der Konkurrenz. Aber selbst wenn die Tarife im Universaldienst konstant blieben – was eine finanzielle Bezuschussung voraussetzt – könnte die Post so viel Marktanteil einbüßen, dass sie von derzeit 1 500 Vollzeit-Beschäftigteneinheiten 600 zu viel hätte.

Keine guten Aussichten. Abhilfe sah Alcantara, falls in Luxemburg eine Last mile-Regelung getroffen würde. Dann behielte die Post das Monopol bei der Verteilung, die Konkurrenz lieferte ihr nur zu. Ein solches System schützt den öffentlichen Postakteur nicht nur in den USA, sondern auch die britische Royal Mail. Dass in einer Arbeitsgruppe des EU-Ministerrats am Dienstag grundsätzlich die Option Last mile festgehalten wurde, war die dritte gute Nachricht, die Kommunikationsminister Schiltz dem Parlament überbringen konnte.

Doch die Last mile ist unter den Postunternehmen erheblich umstritten und derzeit nicht konsensfähig. „Sie schützt den traditionellen Operateur ja auf künstliche Weise“, sagt Francis Mary, Chef der ständigen Vertretung der französischen Post bei der EU-Kommission. Von Royal Mail abgesehen, seien alle großen Postunternehmen dafür, die Last mile möglichst nicht mehr zu gewähren: die deutsche, die französische, die italienische Post. Lauter expansive Gesellschaften wohlgemerkt. Die EU-Kommission vertrete dieselbe Meinung.

Unter Umstrukturierungsdruck aber dürfte die EPT-Postdivision auch geraten, falls ihr die „letzte Meile“ geschenkt würde. Schon das Strategiepapier, nach dem bis 2008 die Zahl der Postämter von 105 auf 39 zurückgehen soll, wurde lange vor den aktuellen Liberalisierungsdebatten erstellt.

Über das Ausmaß dieses Drucks entscheidet allerdings auch die heimische Politik: Denn der Erhalt eines Monopols der Briefpost und des Beamtenstatuts der Postbediensteten ist nicht allgemein Konsens. Banken und andere Großkunden hatten sich schon vor fünf Jahren dagegen gewehrt, dass der EPT durch eine Abänderung des Postgesetzes ein zusätzliches Monopol auf ausgehende grenzüberschreitende Sendungen zuerkannt wurde. Und nicht umsonst zählten die Analysten von PriceWaterhouseCoopers den Luxemburger Markt ungeachtet aller Kleinheit zu den „für den Wettbewerb interessantesten“ der EU.

Peter Feist
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