Norden

Ende des Sonderwegs

d'Lëtzebuerger Land vom 13.10.2005
Viele Luxemburger haben Vorstellungen über den Norden des Landes, die schon längst nicht mehr in Einklang mit den tatsächlichen Realitäten stehen. Dies mag damit zusammen hängen, dass das Gros der Bevölkerung seine Wurzeln in dieser Gegend hat. Dies liegt aber inzwischen so weit zurück, dass es einen fruchtbaren Boden für Legendenbildungen liefert, die umso hartnäckiger sind, als die verlorene ländliche Unschuld jeglicher Grundlage entbehrt.

Die Landflucht hat sich längst in ihr Gegenteil entwickelt. Wegen der horrenden Grundstückspreise sonstwo über Land suchen mehr und mehr Bürger ihr Heil im Norden, wo man noch zu halbwegs erschwinglichen Preisen Grund und Boden erstehen kann. Die zusammenwachsende Nordstad, aber auch die Explosion von Örtlichkeiten wie Warken, Bürden und verlassene Weiler entlang der CFL-Nordstrecke und der Nordstraße hinauf bis nach Wemperhardt zeugen von diesem Phänomen, was natürlich nicht ohne Folgen bleibt auf das politische Verhalten der zugewanderten Bevölkerung, die längst im Banne der wirtschaftlichen Attraktivität der Hauptstadt und Umgebung steht und natürlich beeinflusst wird durch die dort vorherrschenden politischen Sitten. Seit es die soziologischen Wahlanalysen des Brüsseler Crisp gibt, weiß man, das der Nordbezirk mehr als die anderen Wahlbezirke eine besondere Vorliebe für das Panaschieren hat, Ausdruck sowohl des ausgeprägten Hangs zum Individualismus der  bodenständigen Bevölkerung als auch des Verhaltens der Zu- oder Rückwanderer.

Die Gemeindewahlen bestätigen und verstärken diese Tendenzen. Kein Wunder, dass die Nordgemeinden für so manche Überraschung sorgten. Die Handvoll an Gemeinden, wo nach dem Proporzsystem gewählt wurde (zusätzlich zu den traditionellen Proporzgemeinden Ettelbrück, Diekirch und Wiltz gesellten sich Rambruch und Wintger hinzu), liegen mehr oder weniger im nationalen Trend. Sprich: deutliche Stimmen- und Sitzverluste der DP in Diekirch und Ettelbrück, wo sie die Hälfte ihrer Stimmen und Sitze einbüßte und sich nur in Wiltz einigermaßen behaupten konnte; Vorpreschen der LSAP in Wiltz, wo die absolute Majorität stimmenmäßig deutlich überschritten wurde, sowie in Ettelbrück und Diekirch; Zuwachs der CSV in Ettelbrück, Diekirch und Wiltz. Hier machen sich bereits vor geraumer Zeit in die Wege geleitete Erneuerungs- und Verjüngungsprozesse bezahlt, symbolisiert durch Leute wie die beiden Député-Maire Romain Schneider (LSAP, Wiltz) und Jean-Paul Schaaf (CSV, Ettelbrück), aber auch durch Claude Haagen (LSAP), alt-neuer Diekircher Bürgermeister, der freilich nach einem neuen Koalitionspartner Ausschau halten muss, nachdem der  bisherige Partner DP die Hälfte seiner Stimmen und einen seiner zwei Sitze verloren hat. Aber auch Déi Gréng konnten auf einem für sie relativ ungünstigen Terrain zulegen, besonders in Diekirch und in Ettelbrück, wo sie die DP als drittstärkste Partei überholten und die verlorenen Sitze beerbten.

In den beiden neuen Proporzgemeinden Rambruch und Wintger gibt es zwar keine Vergleichsbasis, aber auffallend ist, dass es der CSV in der Fusionsgemeinde im hohen Norden auf Anhieb gelang, die DP zu überflügeln und damit die austretende Bürgermeisterin Agny Durdu (gleichzeitig DP-Generalsekretärin) um ihr Bürgermeisteramt zu bringen. Der neue Bürgermeister wird wahrscheinlich Marcel Thommes (CSV), der eine Allianz mit der LSAP anstrebt, die über eine Mehrheit von fünf plus einen gegenüber den vier DP-Sitzen verfügt. Wintger ist übrigens die einzige Proporzgemeinde im Norden, wo das ARD den Einzug in den Gemeinderat schaffte, bedenklich für eine Partei, die in der  vorherigen Legislatur noch über zwei Norddeputierte verfügte (Jean Colombera und Jemp Koepp) und diesmal nur mehr in Ettelbrück und in Wintger antrat. In Rammerich konnte der bisherige, sehr eigenwillige Bürgermeister Ferd Unsen, bekannt für seine Alleingänge in Sachen regionale Zusammenarbeit, zwar mit seiner „Fräi Lëscht“ ein blendendes Resultat mit 43 Prozent und fünf Sitzen einfahren, aber seine Widersacher CSV, DP und LSAP, die zusammen über einen Sitz mehr verfügen, einigten sich sehr schnell darauf, ihn und seine Mannschaft in die Opposition zu verbannen, was für spannende Auseinandersetzungen im neuen Gemeinderat sorgen dürfte. Unsen lehnte konsequent die Mitarbeit seiner Gemeinde im Rahmen des prestigeträchtigen, aber kostspieligen Projekts Naturpark Uewersauer ab, sehr zum Missfallen der Nachbargemeinden, die auf Rache aus waren und  jetzt wahrscheinlich auf ihre Kosten in Folge eines demokratisch zweifelhaften Ausgrenzungsmanövers kommen dürften. Der neue Bürgermeister dürfte Toni Rodesch (CSV) heißen.

In dem Maße, wie die Gemeinden als Rekrutierungsbasis des politischen Personals gelten, hat sich das politische Kräfteverhältnis im Norden eindeutig zu Gunsten der CSV verändert. In den fünf Proporzgemeinden verfügt sie seit letztem Sonntag über insgesamt 23 Mandatsträger, gegenüber 18, die aufs Konto der  LSAP gehen und nur mehr neun für die DP. Vor sechs Jahren war das Kräfteverhältnis, bezogen auf drei Proporzgemeinden, noch sehr viel ausgeglichener mit elf CSV-Mandaten, 14 für die LSAP und sieben für die DP. Die liberale Partei, die unter dem Impuls ihrer Nord-Ikone Charles Goerens bei den Legislativwahlen auf dem besten Weg war, die Vormachtstellung der CSV im Nordbezirk zu brechen, sieht sich jetzt vor einem Scherbenhaufen und muss sich allen Ernstes fragen, was sie falsch gemacht hat.

Noch buntscheckiger ging es in den zahlreichen Majorzgemeinden des Nordens zu. In vier davon (Consthum, Feulen, Neunhausen und in der Sektion Wilwerwiltz der ab dem 1. Januar 2006 fusionierten Gemeinde Kiischpelt; lediglich in der Sektion Kautenbach kam es zu Wahlen) erübrigte sich der Urnengang, da die Zahl der Kandidaten deckungsgleich mit den zu vergebenden Mandaten war. Anderswo geriet der Urnengang streckenweise zu einer regelrechten Hekatombe für austretende Bürgermeister. Zwei austretende Bürgermeister (Camille Eilenbecker, Heinerscheid und Edmée Ley-Theis, bisher Bürgermeisterin von Fouhren, das zusammen mit Bastendorf ab Januar die fusionierte Gemeinde Tandel bilden wird) bekamen den Laufpass und schafften nicht einmal ihre Wiederwahl als gewöhnliche Gemeinderatsmitglieder. In Saeul verwies Raoul Clausse  Bürgermeister Nicolas Schockmel auf den zweiten Platz, genau wie in Bourscheid, wo Annie Theis-Nickels den verdienten Bürgermeister Jean Schockmel enttronte oder in Redingen, wo Herausforderer Serge Bloes Roger Schneider in die Schranken verwies, oder in Wahl, wo Marc Assa Jean Ferber vom Bürgermeisterstuhl verdrängte. Noch schlimmer erwischte es den langjährigen CSV-Deputierten und Bürgermeister der Stauseegemeinde Nico Loes, der sich nur mit dem vierten Platz begnügen musste. Das gleiche Schicksal ereilte den Vichtener Bürgermeister Nico Maréchal, der seinen Bezwinger in der Person von Léon Blum fand.

Wie schwierig gestandene Politiker es in Majorzgemeinden haben, beweist das Schicksal des austretenden „Député-Maire“ von Beckerich, Camille Gira (déi Gréng), der nur knapp die Oberhand gegenüber seinem Challenger Georges Conter behielt. Komfortabler ging allerdings das Rennen für andere Abgeordnete aus, die als Lokalpolitiker Rang und Namen haben. Emile Calmes (DP, Préizerdaul), Marco Schank (CSV, Heiderscheid) und Ali Kaes (CSV, Bastendorf, das zur künftigen Fusionsgemeinde Tandel gehört) behielten die Nase vorn, obwohl auch hier von einer Wahl zur nächsten der Abstand zum Zweitgewählten deutlich geringer wurde. Mangel an Respekt vor gestandenen Lokalgrößen scheint zu den Charaktereigenschaften des Öslinger Wählers zu gehören, der  nichts lieber mag als die Karten neu zu mischen.
Mario Hirsch
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