Leitartikel

Parallelwelten

d'Lëtzebuerger Land vom 14.09.2018

230 hochqualifizierte Spezialkräfte, das Gros „nah an der Schule“, habe er bereitgestellt, sagte Schulminister Claude Meisch auf der Pressekonferenz zur diesjährigen Schul-Rentrée. Vier Lyzeen habe er eröffnet, drei neue Kompetenzzentren sowie Strukturen zur besseren Gouvernance geschaffen. Seine Botschaft war klar: Nach einer eher chaotischen Rentrée 2017 hat der Liberale alles im Griff.

Diametral anders klangen dagegen SEW und der Landesverband FNCTFFEL auf ihrer gemeinsamen Auftakt-Pressekonferenz: Man habe Telefonate erhalten von Lehrbeauftragten, die von Schulen angerufen worden seien mit der dringenden Bitte, einzuspringen. Dabei sei es nicht um kurzfristigen Ersatz gegangen, weil jemand krank geworden sei, sondern um chronische Personalnot wegen zu knapp bemessener Personal-Kontingente. Für die Gewerkschaften steht fest: Der Minister redet die Lage schön, der Lehrermangel sei trotz Quereinsteiger nach wie vor ungelöst und Meisch ein Neoliberaler, der mit seinen Reformen die Bildungsmisere bloß verschärfe.

Wer sich ein unabhängiges Bild machen und beide wiedersprüchlichen Aussagen überprüfen will, stößt auf Hindernisse: Die echten Personalschlüssel kennen nur die Schulen und Lehrer vor Ort; der SEW gibt zu, über keine Ressourcen zu verfügen, um bei 154 Grundschulen und über 30 Sekundarschulen nachzufragen. Eine realistische Einschätzung der Lage sei zudem schwierig, so SEW-Präsident Patrick Arendt, weil sich Lehrer nicht trauten, Kritik zu äußern, nachdem einige vor einem Jahr Maulkörbe vom Ministerium verpasst bekommen hätten.

Dass die eher links stehende Gewerkschaft und das DP-geführte Ministerium nicht einer Meinung sind, liegt in der Natur der Sache. Und trotzdem: Frustrierte Stimmen, die vor Burnout und wachsender Frustration warnen, gibt es, zuletzt im Kontext von Gewalt an Schulen und Maisons relais. Lehrkräfte schätzen das Gewaltproblem deutlich größer ein als Meisch, der zunächst beschwichtigte. Inzwischen treibt er den Auf- und Ausbau von Betreuungsangeboten für verhaltensauffällige Schüler besonders eilig, manche sagen: überstürzt, voran. Dass der Minister nicht so partizipativ und ein guter Zuhörer ist, wie er im DP-Wahlspot glauben machen will, gilt als offenes Geheimnis: Schulen haben unter ihm zwar an Autonomie gewonnen, das gilt jedoch vor allem für die Entscheidungsträger, die Direktionen. Wer mit Lehrern redet, hört oft von Überforderung, Stress und Resignation.

Das ist gefährlich nicht nur für den DP-Minister, der hofft, wiedergewählt zu werden und deshalb seit Monaten Schönwetter-Pressekonferenzen abhält, ein Buch über seine Bildungspolitik geschrieben hat und gute Taten wie die Gratis-Schulbücher in der Sekundarschule oder Gratis-Sprachförderung in der Crèche bewirbt.

Es ist besonders gefährlich für das Bildungssystem: Ohne eine ehrliche Feedbackkultur, ohne funktionierende Kanäle zwischen Ministerium und Lehrpersonal, das offen sagen können muss, wo der Schuh drückt, fehlt dem System ein wichtiger Pulsmesser. Der Minister hat zwar eine Beobachtungsstelle eingesetzt und eine Mediatorin, um Entwicklungen der Schulen zu analysieren und gegebenenfalls gegenzusteuern. Aber Expertenurteile, so wichtig sie für politische Entscheidungen sind, ersetzen nicht Erfahrungswerte vor Ort. Die Reformen umsetzen müssen die Lehrer. Sie sind der Garant für guten Unterricht, sie sind es, die Fehlentwicklungen als erste erkennen und benennen können – wenn sie Zeit dafür haben und motiviert sind. Dass sie sich nicht einmal im politischen Wahlkampf zu Wort melden, dass trotz Herausforderungen wie Digitalisierung, Populismus und ungleicher Bildungschancen außer dem SEW niemand über die Schule von heute und morgen diskutiert, ist Grund zur Sorge.

Ines Kurschat
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