Neulich am Himmel

Tollmond

d'Lëtzebuerger Land du 09.10.2015

Die Tage sind günstig zum Zehennagelzwicken. Man könnte sich auch eine neue Hüfte einsetzen lassen, mal nachschauen, was sonst noch so empfohlen wird. Den Ziegenstall ausmisten zum Beispiel. Danke lieber Mondkalender, du sagst uns immer, welches Holz geschlägert gehört und welche Haare wo gejätet. Also im Einklang mit ihm. Jetzt, da er wieder unser guter, alter Mond du gehst so stille ist. Wo er wieder tut, was so ein Mond zu tun hat. Am Himmel stehen, routiniert eine Runde drehen. Er nimmt ab und zu, er schwimmt ein bisschen, er geht unter. Er leuchtet den Liebenden, allen anderen auch, er diskriminiert niemanden. Jetzt, da er wieder uringolden ist oder hostienzart. Auf jeden Fall unblutig. Er ist wieder unser Mond, wie gewohnt, der über unsern Köpfen wohnt. Er benimmt sich wieder wie ein Normaler.

Und vielleicht versinkt sein blutiger Amoklauf gleich wieder in der Nacht der Geschichte, die meisten Menschlein lagen sowieso arglos in den Federn, einige allerdings lauerten ihm mit einer subtilen Ausrüstung auf. Sie erwarteten ein Spektakel, eine gelungene Darbietung. Die Zeitzeugin wollte sich der Anschauung widmen, dem allerhöchsten Tun. Aber irgendwann, ein Himmelskörper verlor gerade den Verstand, klammerte sie sich an eine Feder, um Folgendes niederzustammeln, schriftlich.

Ich betete ihn an, dann kam er.

Dabei fing alles ganz harmlos an, ich stehe auf dem Balkon, ich will ja nur kontrollieren, ob er alles richtig macht, also so wie die Wissenschaftler es sagen, ob er errötet und so. Zuerst wird er von der Nacht angefressen, die schwarz ist wie die Nacht, also alles richtig, sie tupft ihn mit schwarzer Watte weg. Es ist sehr still auf der Hauptstraße, weltallstill, und es geht ein feiner Weltallwind, es wird sogar plötzlich weltallkalt. Die Bäume flattern ein bisschen mit den Flügelchen, sonst nichts.

Unten kommen zwei anpalavert, mit vielen Plastiktüten, sie verschnaufen, ziehen weiter. Vielleicht Flüchtlinge. Oben ist jetzt eine Platinteeschale, eine synthetisch rote Dunstkugel steigt daraus auf, rubinrot, wenn es diese Farbe noch gibt. Vielleicht auf dem Mond. Unten geht einer mit einem Hund. Hund und Herr schleichen auf leisen Sohlen, die ganze Nacht ist auf leisen Sohlen, der Hund ist mäuschenstill.

Der Mond wird immer rubinrot durchsponnener, er könnte eine Krankheit haben. Oder ich. Komisch, schon kommt ein Krankenwagen vorgefahren. Der Mond wird jetzt lieb, so ein Lampenkopf mit einer Erdbeermütze, die ein bisschen verrutscht. Ich steige auf einen Stuhl, weil er hinter die Bäume verrutscht, mein Herz fliegt ihm zu, und dann OMG kommt er. Er kommt, was macht er da, das war doch nicht vorgesehen, Vorsehung? Oder???

Er ist keine Scheibe mehr, er kugelrundet sich, mehr und mehr, ist das jetzt dreidimensional, wie viele Dimensionen gibt es, kann mir das mal eine sagen? Er ist jetzt eine Orange, orange, mit Schatten und Schattierungen, ein Lampion, den ich von allen Seiten sehe. Der Lampion taumelt, er ist nicht mehr befestigt, wo auch immer er normalerweise befestigt ist oder sein soll oder hängen soll, keine Ahnung. Ich bin ja keine Raumtechnikerin, nicht mal eine Raumpflegerin, er baumelt rum im Raum. Er scheint orientierungslos, besoffen. Dann rast er nach links, dann auf mich zu, geradewegs, nur mein Baum ist noch zwischen uns.

Alle schlafen, Melancholia, Lars von Trier, ich renne zu denen auf Facebook, sie merken nichts. Sie posten Passfotos von ihm. Moon go home!, wie ich rauskomme, kann ich ihn nicht mehr anfassen, was macht er, Pause? Oder ist es nur ein Trick, ich soll schlafen gehen, nein, das tue ich nicht, sicher nicht. Ich bleibe, wo ich bin, auf meinem Stuhl, nein, ich muss runtersteigen, steigt er auch runter? Geht er? Geht er wirklich, runter, unter? Wohin, Scheiße, ich weiß nichts über ihn, wie über einen Ehemann, ich weiß nur das mit den Operationen und dem Stallausmisten, was weiß ich, was er tut, geht er, und wohin? Das kann ich jetzt nicht guggeln, ich muss ihn im Auge behalten. Irgendwann muss doch die Sonne kommen, sie muss aufpassen.

Er ist blass geworden, müde, wie ich, er gibt auf, schleicht sich.

Die Nacht mit dir war toll, Mond, aber gut, dass das jetzt wieder dreißig Jahre dauert bis zum nächsten Mal, oder zwanzig. Öfter würde ich das nicht verkraften.

Michèle Thoma
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