Marc Lies leitet in Hesperingen die Geschicke der viertgrößten Gemeindes des Landes. Seit ein paar Jahren entgleist dem CSV-Abgeordneten regelmäßig der Ton.
Ein Porträt

“Ech well a Rou gelooss ginn”

Marc Lies im Parlament
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 28.03.2025

Als der Hesperinger Gemeinderat vor zwei Wochen nach anderthalb Stunden endgültig eskaliert, findet der CSV-Bürgermeister Marc Lies geradezu emotionale Worte, um wieder Ruhe in den vollen Saal, in dem sich auch die Presse eingefunden hatte, zu bringen. „Wann da Leit bei mech kommen, Marc, du kanns der net virstellen, wat d‘Leit mer rëm un de Kapp geheit hunn. Dat deet net gutt, dat deet kengem gutt! (…) A wann ech effektiv eppes geschriwwen hun, wat ech net hätt sollte schreiwen, da wor et well et mir wéigedoen huet – am Häerz. Et geet em d’Gemeng an em d’Personal!“ Die Opposition echauffierte sich kurz zuvor dermaßen, dass Handtaschen gepackt wurden und man den Saal verlassen wollte. Hintergrund des Streits war eine interne Mail an die lokale CSV-Sektion, in der Marc Lies angab, dem „Kallef“ Stephen de Ron und seinem „Alkolit“ Mathis Godefroid beim nächsten Gemeinderat „den Diks riichten ze wollen“. Das wiederum war Lies‘ Reaktion auf eine angriffslustigere Oppositionspolitik von Godefroid (Ex-Pirat, jetzt LSAP) und de Ron (Grüne). Sie haben sich die letzten Wochen im Rahmen einer Betrugsaffäre eines Beamten, der jahrelang Arbeitsstunden gefälscht hatte, über den Umgang des Bürgermeisters mit der Affäre beklagt. Lies hatte die Informationen eigentlich der Öffentlichkeit vorenthalten wollen.

Seit Jahren kommen gefühlt monatlich Hiobsbotschaften aus der Gemeinde. 2019 wurde öffentlich, dass zwei Beamte mehr als 20 Jahre rund fünf Millionen Euro aus der Gemeindekasse entwendeten. Das anschließende Audit hat der Bürgermeister nicht publiziert. 2024 kamen die ersten Entgleisungen auf Social Media. Auf Facebook postete Lies einen Kommentar, der ein Amalgam zwischen der Tötung von Hühnern und der Außenpolitik Jean Asselborns herstellte. Dass so viele Flüchtlinge ins Land gekommen seien, habe zu einer Verschlechterung der Sicherheitssituation beigetragen, hieß es in einem offenbar zu später Stunde mit Schreibfehlern versehenem Kommentar. Es hagelte Kritik, Lies entschuldigte sich.

Die nächste Affäre ließ nicht lange auf sich warten. Im Sommer 2024, kurz bevor der Gemeinderat die alljährliche Sommerpause im August einlegen sollte, schlug Marc Lies seine Stieftochter für einen Posten in der Gemeinde vor. Obwohl er selbst nicht mit abgestimmt hat, stand ein Interessenkonflikt im Raum – außerdem erfüllte die Person die Anforderungen des Postens nicht. (CSV-Innenminister Léon Gloden machte die Nominierung aufgrund der fehlenden Qualifizierungen rückgängig, ließ den Interessenkonflikt jedoch nicht gelten.) Ein gefundenes Fressen für die Opposition. Ihr wiederum schickte Lies im Nachhinein implizite Drohungen per SMS, man solle mit „Konsequenzen“ rechnen. Im Dezember und Januar diesen Jahres folgte die Betrugsaffäre. Der Umgang des Bürgermeisters mit diesen Fällen hat System, denn Marc Lies ist nicht daran gelegen, seiner Gemeinde ständig in die Schlagzeilen zu verhelfen: Die delikaten Dossiers werden vor längeren Pausen angegangen, also etwa vor längeren Sommerpausen oder vor seinem Rückzug im Winter. Dadurch gewinnt die Opposition den Eindruck, nicht ins Bilde gesetzt zu werden. Mitte Januar kündigte Lies dann zwei Monate politische Pause an, nach eigenen Angaben aufgrund von „extremem Stress“. Das Wort Burnout wollte zu diesem Zeitpunkt niemand nennen, doch die Pause soll medizinisch angeraten worden sein.

Marc Lies wurde 1968 in Echternach geboren und zog mit sieben Jahren mit seinen Eltern und den zwei jüngeren Geschwistern nach Itzig. Seitdem ist die Familie in der Gemeinde verwurzelt: Der Vater war Geschäftsführer der Bonneweger Coopérative und führte später eine Immobilienfirma im eigenen Haus, der Bruder arbeitet in der Kommunalverwaltung in Hesperingen. Seine Mutter kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Als Jugendlicher wurde Marc Lies im kommunalen Vereinsleben aktiv, war im Jugendclub tätig und spielte im FC Blo-Wäiss Itzig in der Verteidigung, später wurde er Kassierer des Vereins. Auch heute bleibt er dem Fußballclub noch als Ehrenmitglied erhalten. Nach dem Abitur, Ende der 80-er Jahre, begann er an einem Schalter der lokalen Spuerkeess-Filiale zu arbeiten, dann als Trader. Seine Berufswahl kommentierte er 2009 im Quotidien pragmatisch: Es sei „kein Kindertraum“ gewesen, jedoch ein „Sektor, der damals in vollem Aufschwung war“. Er sei ein sehr „treuer und bodenständiger Mensch“, sagt er in einem Telefongespräch mit dem Land – es habe ihn nie länger aus seiner Heimat weggezogen.

In den 90er-Jahren wird er in der CSJ aktiv, 1999 schafft er den Sprung in den Gemeinderat, 2005 wird er Finanzschöffe. Die Gemeinde, die vom urbanen Howald zu den Feldern Alzingens reicht und heute rund 17 000 Einwohner/innen zählt, ist eine Hochburg der Christ-Sozialen: Sie stellen dort seit 1975 ununterbrochen den Bürgermeister. Als die letzte Bürgermeisterin, Marie-Thérèse Gantenbein, sich Anfang 2009 aus der Politik zurückzog, kam Marc Lies zum Zug. Dieser Deal war von langer Hand geplant. Dann kamen die Nationalwahlen, es war das Jahr, in dem die CSV die DP im Bezirk Zentrum überholte, Lies war der „Senkrechtstarter“ des Jahres und schaffte den Einzug ins Parlament. Er war von nun an député-maire. Und sollte es bleiben.

Denn richtig nach vorne hat Lies es nationalpolitisch nie geschafft. 2013 auf dem achten Platz, verbesserte er sich 2018 auf den fünften im Zentrum. 2023 wurde er Siebtgewählter in seinem Bezirk. Während den Koalitionsverhandlungen strebte Frieden eine Verjüngung der CSV an. Dem Vernehmen nach habe sich um das Wohnungsbauministerium niemand gestritten. Dass Marc Lies nach zwei Legislaturperioden als engagierter wohnungsbaupolitischer Sprecher der Opposition nicht Minister dieses Ressorts wurde, muss ihn gekränkt haben. Zehn Jahre arbeitete er darauf hin, seine parlamentarischen Anfragen kreisten zumeist um den Wohnungsbau. In der aktuellen Regierung haben alle Minister/innen Universitätsstudien hinter sich – für die neue CSV stellt der Mangel an akademischen Studien vielleicht eher ein Problem dar als für die alte. Aber mutmaßlich war man sich auch unsicher, ob Lies‘ Persönlichkeit vorhersehbar genug ist, um die Ministerrolle nach außen hin stets adrett auszufüllen. Frank Engel, ehemaliger CSV-Präsident, kommentierte die Regierungsbildung auf RTL: „De Marc Lies, deen sech éierlech an anstänneg an dësem Dossier gekëmmert huet, deen dierf sech weider als Buergermeeschter vun Hesper em säi PAG këmmeren.“ Seine eigenen Ambitionen spielt Marc Lies im Gespräch mit dem Land herunter: „Ech si bescheiden. Ech hunn ni de Fanger ausgestreckt dofir.“ Die Wahrheit ist, dass es nach nunmehr 16 Jahren als Bürgermeister keine weiteren politischen Aufstiegs-
chancen gibt.

Menschen, die mit ihm zusammen arbeiten, bezeichnen ihn als „jovialen Typ“, der offen sei, sozial – jemand, der jederzeit ansprechbar ist. Er zeigt sich, wie sich das für Gemeindepolitiker gehört, auf Kirmes und Buergbrennen – auch außerhalb des Wahlkampfs. Bei den Einwohner/innen ist er beliebt, mit seinem Australian Shepherd geht er fast jeden Tag 10 000 Schritte spazieren. Doch in der letzten Zeit sei er etwas gereizter, sagen Leute aus seinem Umfeld.

Von 2017 bis 2023 herrschte die CSV allein in Hesperingen, 2023 verlor sie ihre absolute Mehrheit. Die Alleinherrschaft und Stärke der Partei in der Gemeinde kann das derzeitige Klima zumindest ansatzweise erklären. Die politisch Verantwortlichen tun sich mit Kritik schwer, weil sie es schlicht nicht gewohnt sind. Dabei kennt Marc Lies sich selbst mit Oppositionspolitik aus, er betrieb sie zwischen 2013 und 2023 für die CSV im Parlament. Insbesondere in der Wohnungsbaukommission soll sie nicht immer konstruktiv gewesen sein, erklärt die ehemalige Präsidentin des Ausschusses, Semiray Ahmedova (Grüne). „Es war manchmal sehr mühsam, weiterzukommen, denn alles wurde schlecht geredet – einfach aus Prinzip.“ Einmal loggte Marc Lies sich für eine Videokonferenz ein, regte sich auf, und legte dann auf, ohne die Antworten abzuwarten. Unter Posts von den Grünen setzte Marc Lies in dieser Zeit routiniert Emojis, die sich übergeben. Offenbar politisches Kalkül, um eine gewisse CSV-Basis an sich zu binden. Denn persönlich sei er korrekt gewesen, erklärt Semiray Ahmedova. In seiner eigenen Sektion scheint sein Verhalten zumindest einer Person genug zu missfallen, um einen möglichen Ausschluss aus der eigenen Partei in Kauf zu nehmen: Jemand hat die interne „Kallef“-Email an die Presse weitergeleitet. Wer das war, und welche internen Konsequenzen es gegeben hat, darüber will Marc Lies keine Auskunft geben. Er habe den Eindruck, man rege sich auf und klopfe sich danach auf die Schulter, „an da geet een dono e Gudden zesumme saufen“. Er hoffe, in Zukunft „in Ruhe gelassen zu werden“.

Sarah Pepin
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