Die kleine Zeitzeugin

Lasst uns regredieren!

d'Lëtzebuerger Land vom 16.09.2022

Wir wollen eine Königin. Besonders eine tote. Eine tote ist noch besser, weil da können wir weinen. Wir wollen weinen. Wir müssen weinen. Irgendwer irgendwas muss die Knoten in uns lockern, immer können wir nicht hart sein müssen. Hart und zynisch und rationell. Selbstbestimmt. Nüchterne Passagier*innen des dritten Jahrtausends. Keine Popanze, keine Popen, keine Puppen, keine Päpste. Aufklärung statt Verklärung. Keine Altar- oder Palastkulissen, keine Throne, Kronen. Nichts als die nackte Freiheit.

Jetzt können wir weinen, gratis. Eine Massentherapie. Uns einklinken in den globalen Flennflow. Weil die Großmutter ist tot. Sie war die Großmutter der ganzen Welt, wie plötzlich klar wird, des Universums gar. Die Ur-Großmutter. Von Klein und Groß, von Menschen aller Geschlechter, aller Teints, aller Einkommensklassen. Selbst hartgesottene Linke wischen sich eine Zähre aus dem Knopfloch, weinend sind endlich alle vereint. Die Arbeiter*innenklasse, die es nicht mehr gibt, der Mittelverstand, den es nicht mehr gibt, all die herumdriftenden Individuen mit ihren flexiblen Lebenskonzepten, und die Hyperreichen.

Mourning and Grief heißt die poetische Losung auf BBC. Sie war immer da! murmeln die Menschen am Straßenrand. Seit einer Woche wiederholen die Trauer- Moderator*innen dieses Statement in Dauerschleife, seit einer Woche üben sie sich in der Kunst, endlose Sendezeit auszufüllen mit diesem monotonen Mantra.

Sie war schon im Job, als die Alten das Licht der Welt erblickten. In der Schwarzweißzeit war sie schon da, die letzten Schwarz-Weiß-Menschen erinnern sich. All die Kratzfüße und Bücklinge die sie entgegennahm! Die Weltgeschichte defilierte vor ihr, aus dem Schwarzweißfilm wurde ein Farbfilm. Pausenlos hatte sie Geburtstag. Pausenlos hatte sie Jubiläum, alles jubelte, paradierte, zu Wasser, zu Land, zu Pferde, es wurde in Hörner geblasen und aus den Elendsvierteln und den Villenvororten strömten die Untertanen. Auch wenn Spielverderber*innen sich die Obertanen nicht mehr leisten wollten. Wie lange sollte die älteste Demokratie der Welt diese perverse Buckinghammelbande noch aushalten? Einen Prinzen, der sich als Nazi verkleidete, einen Thronfolger, der ein Tampon sein wollte? Eine Romantikerin mit vagem Blick schüttete ihr Herz aus zur besten Sendezeit, war sie nicht Opfer auch dieser Königin, die noch aus der vorempathischen Zeit stammte? Der bösen Schwiegermutter. Aber dann erschien diese auf dem Balkon und schaute unerschütterlich. Und es ging weiter mit dem Zirkus, die Hauptdarsteller*innen wurden milliardenfach angeklickt und sie wurden weiter gebucht. Eine blieb auf der Strecke. Das tat der Beliebtheit der Serie keinen Abbruch.

Pflicht! Beständigkeit! Tapferkeit! Geduld! Unter Tränen stoßen Menschen diese seltsamen Worte hervor, in den Medien machen sie Schlagzeilen, Begriffe die nach Katechismus und Kriegen riechen. Tugenden, wie das auf old school hieß. So Tugenden wollte doch schon ewig keine*r mehr kaufen. Sie hat ihre Pflicht getan! Lebenslänglich! murmelt es nostalgisch auf allen Kanälen.

Dass sie all das nicht nur duldete, sondern erduldete. Nicht abhauen, nicht abkratzen, nie schwänzen. Sich nicht scheiden lassen. Schon gar nicht verscheiden. Stur und stoisch, und im Lauf der Jahre kam allmählich ein Liebreiz dazu. Die Frau, die in ihren mittleren Jahren wie eine mechanische Absolventin lächerlicher Zeremonien gewirkt hatte, wurde immer präsenter. Sie schaffte es, kanariengelbe, pinke, aprilfrischgrüne Maskottchen-Outfits und Winke-Winke-Teletubby-Charme mit der Ehrwürdigkeit der Greisin zu verbinden. Etwas Weicheres ging von ihr aus, ein Strahlen, gar eine Ausstrahlung. Oder hatte sie das all die Jahre nur professionell getarnt, in auf BBC gezeigten alten privaten Aufnahmen erscheint sie oft übermütig, temperamentvoll, lustig?

Huch!, ich gerate ins Schwärmen über die reichste Großgrundbesitzerin Großbritanniens. Wo gerade Tausende junge Männer in der Ukraine sterben! Ernsthafte Linke wettern über Linke, die weinende Emojis posten, weil eine greise Nachfolgerin von Raubrittern das Zeitliche gesegnet hat.

Michèle Thoma
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