Verfassungsrevision

In schlechter Verfassung

d'Lëtzebuerger Land vom 16.10.2015

Man darf eine Arbeitshypothese wagen: Wenn die CSV in der Opposition ist, ist keine bedeutsame Verfassungsrevision möglich. Unter der DP/LSAP-Koalition der Siebzigerjahre wurden zwar am 13. Juni 1979 drei Verfassungsbestimmungen geändert, über die Wahlbezirke, die Gemeinden und die Strafverfolgung von Ministern. Aber das waren nur die unwichtigsten der neun Bestimmungen, die das Parlament im Mai 1974 zur Revision freigegeben hatte. So fand sich, unter dem Applaus des Staatsrats und anderer Leuchten der Aufklärung und des Humanismus, keine Mehrheit, um die Todesstrafe aus der Verfassung zu streichen. Auch die Abgeordnetenzahl wurde nicht neu festgelegt, die politischen Parteien wurden nicht erwähnt.

Unter der aktuellen DP/LSAP/Grünen-Regierung läuft die große Revision zur Modernisierung der Verfassung nun Gefahr, bis in die nächste Legislaturperiode verschleppt zu werden, dann, wenn aller Voraussicht nach die CSV wieder regieren darf. Die Regierungsmehrheit hatte mit dem Referendum vom 7. Juni versucht, die für eine Zweidrittelmehrheit unumgängliche CSV zu übergehen. Damit ist sie gründlich gescheitert, und die CSV gibt sich nun zwar nach außen staatstragend, aber heimlich will sie nicht einsehen, weshalb sie der Regierung doch noch zu einem politischen Erfolg verhelfen soll. In der CSV wird Ausschussvorsitzendem Alex Bodry zudem vorgeworfen, alles zu tun, um die Verdienste seines christlich-sozialen Vorgängers, Paul-Henri Meyers, der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.

Hinzu kommt, dass die Vorbereitungen der Revision dabei sind, in denselben Dilettantismus auszuarten wie die Vorbereitungen des Referendums. Ein Beispiel ist der eilig improvisierte Aufruf, bis zum gestrigen Donnerstag über Internet Revi­sionsvorschläge aus dem Volk zu sammeln, um nach dem missglückten Referendum den Vorwurf abzuschwächen, die Verfassungsrevision werde unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommen. Nächsten Monat will der parlamentarische Ausschuss dann darüber beraten, wie er die Tierschützer, Monarchisten und Kulturkämpfer mit ihren oft abstrusen Vorschlägen möglichst höflich abwimmeln kann.

Sollte sich die politische Stimmung im Land zudem nicht grundlegend ändern, läuft das angekündigte Referendum über die Verfassungsrevision Gefahr, ebenso zu scheitern wie das Referendum über das Ausländerwahlrecht, das Wahlalter und die Regierungsmandate. Und dann wären die jahrelangen Vorarbeiten für die Katz gewesen. Ohne sich der rücksichtslosen Oppositionspolitik verdächtigen zu lassen, genügt es der CSV, eine Revision vor dem Ende der Legislaturperiode mit der simplen Forderung zu vereiteln, das Verfassungsreferendum nicht in einen Wahlkampf fallen zu lassen. Denn wenn es gelingt, das Studium der Änderungsanträge und Zusatzgutachten nur ein wenig zu verschleppen und vielleicht sogar dem Staatsrat die Schuld dafür zuzuschieben, bliebe 2017 kaum Zeit für die versprochene „ernsthafte“ Referendumskampagne im Gegensatz zur vermurksten von diesem Jahr. Im Jahr danach aber sind Gemeinde-, 2018 Kammer- und 2019 Europa-Wahlen angesagt.

Sollte sich also am Ende die Hypothese bewahrheiten, dass keine bedeutsame Verfassungsrevision möglich ist, wenn die CSV sich in der Opposition befindet? Schließlich könnte heute das Ausländerwahlrecht mit dem Segen der CSV in der Verfassung stehen, wäre die CSV/LSAP-Regierung nicht 2013 gestürzt. Vielleicht muss die CSV einfach die Hüterin der Verfassung bleiben, weil es für sie ganz und gar ausgeschlossen ist, dass die Initiative zur Änderung des konstitutio­nellen Rahmen des CSV-Staats von einer anderen Partei ausgeht. Die anderen Parteien werden vielleicht sogar dankbar sein, an einem zweiten Referendumsfiasko vorbeizukommen.

Romain Hilgert
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