Kino

Downtown

d'Lëtzebuerger Land vom 29.10.2021

Es beginnt als Musical und endet als Horrorfilm: Edgar Wright zieht in seinem neuen Film erneut allerlei Genreregister. Ähnlich wie in Baby Driver, der besonders Gangsterfilm- und Musical-Elemente verband, lässt er seinen neuen Film, Last Night in Soho, von George Cukors My Fair Lady, Blake Edwards Breakfast at Tiffany’s zu Michael Powells Peeping Tom, Roman Polanskis Repulsion bis Brian de Palmas Carrie übergehen. Seine neue Geschichte entwickelt er am Leitfaden der Musik und tatsächlich präsentiert sich der Film gleichsam als Bildwerdung des Popsongs von 1964, Downtown, von Petula Clark, den er so prominent in seinen Film einbindet.

When you‘re alone and life is making you lonely

You can always go

Downtown

Die junge Ellie (Thomasin McKenzie) ist eine schüchterne Außenseiterin, sie ist alles andere als „normal“. Sie lebt bei ihrer Großmutter und ganz zeitversetzt, mitten in den Sechzigerjahren: mit den Beatles und Audrey Hepburn. Sie wird geplagt von Visionen ihrer Mutter, einer Modedesignerin, die sich aufgrund psychischer Störungen das Leben nahm. Ellie hat einen Traum, der sie auf den Spuren ihrer Mutter wandeln lassen soll: Sie will nach London, um sich dort selbst zur Modedesignerin ausbilden zu lassen. Das London der Sechzigerjahre bietet Ellie einen Zufluchtsort, im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier reist sie nun in die Vergangenheit, schlüpft jede Nacht in einer Art von klar imaginierten Wachträumen in den Körper der modischen, vampischen Sandie (Anya Taylor-Joy), die sich selbstbewusst als die nächste Cilla Black ausgibt.

Just listen to the music of the traffic in the city

Linger on the sidewalk where the neon signs are pretty

Die Eindrücke des städtischen Nachtlebens sind ein zentraler Anziehungspunkt in Wrights Film. Da auch entfaltet Last Night in Soho seine formale Sogwirkung. Wrights Film ist ein Abtasten von lauter Oberflächenreizen, über die er seine atmosphärische Rekonstruktion des Nachtlebens der Sechzigerjahre aufbaut. Und an der Nutzung der Neonlichter geizt Wrights Film nun wirklich nicht. Ellie lebt in dieser Traumwelt als Rising Star. Die Grenzen der eigenen Person zu überschreiten, führen Ellie und Sandie – die verlässlichste Trennlinie zwischen der einen und der anderen ist längst verschwunden – in die Zone der Gefahr, denn bald schon entpuppt sich ihr Manager Jack (Matt Reeves) als Zuhälter. Und da plötzlich sind wir in einem grausam-perfekt funktionierenden Geflecht von Macht, Gewalt und Abhängigkeit des Nachts, und in einem Geflecht von Liebe und Verantwortung am Tage.

And you may find somebody kind to help and understand you

Someone who is just like you and needs a gentle hand

To guide them along

Ellies Rettung erscheint vielleicht in der Gestalt ihres jungen Mitstudierenden John (Michael Ajao), der ihre Verzweiflung, ihr doppeltes Ich, erkennt. Thomasin McKenzie, die man aus Leave No Trace und Jojo Rabbit kennt, lässt den ohnehin schwach geschriebenen love-interest blass erscheinen.

Letztendlich geht es nicht um die Verbrechen, die Last Night in Soho beschreibt, und nicht einmal um die Spannung der Gewalt, sondern um die Auseinandersetzung mit zwei sehr unterschiedlich kaputten Frauenschicksalen, mit sehr unterschiedlich gestörten Einflussfaktoren. In all diesen Verwirrungen, Spiegelmotiven und an der Fülle an Sinnesreizen geht Wright aber die klare Position verloren, die die Me-too-Debatte gleichsam implizit postuliert. Last Night in Soho verhält sich in Bezug auf die Schilderung der Gewaltakte wenig konsequent: Männer wie Frauen werden hier zu Tätern und Opfern von Gewaltübergriffen, die der Film weder resolut entschuldigt, noch rechtfertigt. So verhält Last Night in Soho sich letztlich wie der Popsong, den er ins Bild setzt: Einlullend, stimmungsmachend, aber seltsam leer. Oder genügt die Popcollage sich selbst? Liegt die Tiefe auf der Oberfläche? Film als Eskapismus:

Don‘t hang around and let your problems surround you

There are movie shows

Downtown.

Marc Trappendreher
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