„Wo sind wir eigentlich?“, fragt eine der porösen Figuren immer wieder. Gebetsmühlenartig. Stur. Wie ein Leitmotiv, eine dieser Melodien, die sich im Gehörgang festhaken und an denen Filip Markiewicz’ großzügige und ambitionierte Adaptierung von Sophokles’ Elektra ebenso wenig spart wie an einem gewissen Maß an Bombast – für sein Stück stand schließlich die Strauss-Oper Pate. Die Antwort auf die Frage – „wo sind wir eigentlich?“ – ist so unausweichlich wie die Geschehnisse auf der Bühne: „Mitten in der Tragödie.“ Ganz gleich, ob wir uns am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Vorführung befinden. Als wäre es ausgeschlossen, heute noch eine andere Antwort auf eine solche Frage zu geben. Als würde es aus ihr keinen Ausweg mehr geben. Die Tragödie findet jetzt statt – und die Bühnenvorhänge klammern sie längst nicht mehr in der Welt der Fiktion ein.
Dabei ist die Frage durchaus legitim – und die Antwort Teil des intelligenten Vexierspiels, das Filip Markiewicz auf der Bühne inszeniert, weiss der Zuschauer doch zeitweilig nicht, in welcher der drei Tragödien er sich gerade befindet: in Sophokles’ textlichen Unterbau, in Andy Warhols Factory anno 1968 oder in der US-amerikanischen Tragödie, die sich im Hier und Jetzt abspielt und die Sophokles’ Tragödie eine essayistische Form entgegensetzt.
Der multidisziplinäre Künstler Markiewicz überlagert und verkeilt die drei Epochen dabei auf eine Manier, die mehr einer Traumlogik als der einer überschaubaren Dramaturgie entspricht, sodass sich Sophokles Elektra in der Berührung mit den beiden anderen Handlungssträngen langsam in etwas ganz anderes verwandelt: Wer sich hier auf eine Eins-zu-eins-Aufführung des Originals einstellt, ist definitiv fehl am Platz.
Dabei kommt der Titel – Elektra – nach Antigone Neuropa und Euro Hamlet diesmal ohne europäisches Prä- oder Suffix aus und deutet folglich nicht darauf an, dass Filip Markiewicz den Sophokles-Klassiker über eine Tochter, die sich an ihrer Mutter und ihrem Stiefvater für den Mord ihres Vaters rächen will, in die zeitgenössische Welt transponiert hat. Und dennoch – wer Markiewicz kennt, wusste, dass auch diese Adaptierung eines klassischen Stoffes keine gewöhnliche Inszenierung werden würde.
Um Markiewicz Elektra zu erfassen, beginnt man vielleicht deswegen am besten mit dem, was auch für Markiewicz, der sich hier für die Bühne, Kostüm, Musik, Regie, sprich für alles oder fast alles, verantwortlich zeichnet, ganz zu Beginn des kreativen Prozesses stand: Das Konzept. Elektra funktioniert nämlich immer dann am besten, wenn man es als multidisziplinarisches Gesamtwerk auffasst – und immer dann am wenigstens, wenn Markiewicz versucht, nach klassisch-dramaturgischen Regeln Spielsituationen zu schaffen.
Ein Käfig, eine Leinwand, auf der ein Wechselspiel zwischen Clips und Livekamera projiziert wird, ein Loft, Warhols Factory reimagined by Sophocles oder der Palast der Atriden, von Andy Warhol neu konzeptualisiert. Darüber hängt, etwas plakativ, eine Neonleuchte: God is an American. Umzäunt wird die Bühne von einem Schlagzeug, Perkussionselementen und Mastermind Markiewicz’ Cockpit, eine Art Miniaturversion dessen, was ein Nils Frahm auf Tournee mitbringt: Markiewicz’ Klavier, Gitarre, Synthie, Effektgeräte und Gesang harmonieren dabei mit Lars Neugebauers Schlafzeug und den perkussiven Röhren, Töpfen und Kanistern von N.U. Unruh.
„Die Müllabfuhr der Regeln“
Die Musik, gespielt von Markiewicz und den beiden Perkussionisten der Einstürzenden Neubauten, klingt streckenweise etwa so, wie man sich in etwa eine auf 80er und 90er getrimmte Version der Strauss-Oper vorstellen würde, dann wiederum sind es sinnliche synthielastige Raftside-Tracks, irgendwo zwischen David Bowie und Get Well Soon, die mitreißen. Ganz gleich ob sie im Hintergrund pulsiert oder im besten Sinne eines Musicals die erzählerischen Fäden via elektronische Indiesongs weiterspinnt: Der Elektra-Soundtrack ist so toll, dass man ihn am liebsten nach der Aufführung ergattern würde.
Während die Musik also pulsiert, steht Elektra vor der schwierigen Entscheidung, König Agamemnon, ihren verstorbenen Vater, den ihre Mutter Klytämnestra zusammen mit ihrem Liebhaber Aigisthos ermordet hat, zu rächen – und wartet dafür auf ihren Bruder Orest. Knapp sehen wir, wie sie (Anouk Wagener) mit sich selbst (Lisa Schützenberger) hadert, schon sind wir in Warhols Factory: Valérie Solanas (genauso doppelbesetzt wie Elektra) unterhält sich mit Andy Warhol (Luc Feit) und fragt ihn, wieso er eigentlich so verklemmt sei. „Mit dir zu sprechen ist, wie mit einem Stuhl zu sprechen.“ „You‘re a hotwater bottle with tits. You have a lot of ideas,” entgegnet Warhol, als Solanas ihm Ideenklau vorwirft. Eine Szene später sind wir in der Gegenwart, Lisa Schützenberger und Luc Schiltz unterhalten sich über Politik, Gesellschaft und reproduzieren dabei Gemeinplätze der Rechten – junge Menschen würden bloß noch Genderstudies studieren, es gäbe eine Art „linke Agenda“, die den Zustrom von Kriminellen weltweit zur Folge hätte.
Die drei Handlungsstränge verweben sich zunehmend miteinander, geraten dabei mitunter aber auch etwas aus dem Blick – was in dem Sinne schade ist, da die Verzahnung von Valérie Solanas SCUM Manifesto und Sophokles’ Elektra durchaus Interpretationsräume aufmacht und der parasitäre Leihtext den Hypotext, sprich das Original, nach und nach kontaminiert: Die Radikalität von Solanas Aussagen, die vorschlug, „das Finanzsystem abzuschaffen [...] und das männliche Geschlecht zu zerstören“, führt die Darsteller zu einer metaleptischen Analyse der Tragödie und ihrer Figuren: „Einen Tyrannen umgebracht zu haben wäre heutzutage ein Verdienst,“ meint Luc Schiltz irgendwann. Weniger effizient, da etwas aufgesetzt, wirken die Intermezzi, in denen die Geschehnisse von heute verdichtet werden – was genau Elon Musk, abgesehen davon, dass er eine beängstigend perfekte Metonymie des Patriarchats und dessen verheerender Gier nach Dominanz darstellt, in diesem Stück zu suchen hat, erschließt sich einem nicht ganz.
In Markiewicz‘ Oeuvre totale geht dabei manchmal leider etwas verloren, wie subtil zwischen den Handlungsebenen gewechselt wird – hier spricht Luc Feit noch als heterodiegetischer Erzähler, der Solanas Attentat auf Warhol stoisch nacherzählt, schon wird er, im performativen Effekt eines Dialogs, wieder Teil der Tragödie. Ganz so elegant wie in Rasmus Lindbergs Habiter le temps ist dieser diegetische Wechsel zwar nicht – aber er funktioniert dank der hervorragenden Schauspieler sehr gut: Wie Feit zwischen diversen Figuren der Tragödie seinem störrisch-beleidigten Andy Warhol wechselt, ist genauso beeindruckend, wie Anouk Wageners und Lisa Schützenbergers Oszillieren zwischen Elektra und Solanas.
Wegen der Sinnesüberflutung, die dem Zuschauer so einiges an Aufmerksamkeit abverlangt, wird den Darstellern streckenweise etwas zu wenig spielerischer Freiraum gelassen. So sehr die musikalische Untermalung wie auch das Bühnenbild harmonieren, so sehr erhält man mitunter den Eindruck, dass die Darsteller im konzeptuellen Korsett ersticken – der diabolisch lachende Luc Schiltz, irgendwo zwischen Hofnarr, Elon Musk-Parodie und Bondbösewicht, wirkt beispielsweise ziemlich bemüht, und auch erschließt sich nicht immer, wieso es zwei Elektra gebraucht hat: die Dichotomie der Figur hätte eine Darstellerin auch so verkörpern können. Wenn am Ende der Schlussschuss fällt, bleibt eine sinnliche Erfahrung zwischen Theater und Kunstinstallation, die bis in die (seltenen) Momente ihres Scheiterns mutig bleibt.