Österreich lockert Ausgangssperre

Ausnahmezustand

d'Lëtzebuerger Land du 10.04.2020

Gerne zu dritt, mit sorgenvoller Miene, zuletzt mit Mund-Nasen-Schutzmasken angetan: Die österreichische Regierung sorgt seit Mitte März mit täglichen live übertragenen Presseauftritten in wechselnder Besetzung für Kontinuität im Corona-Ausnahmezustand. Die Rollen und Aufgaben sind klar verteilt: Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) wartet mit den jüngsten Daten und Zahlen zu den Infektionsfällen mit dem Corona-Virus in Österreich auf und verkündet die notwendige Vorgehensweise.  ÖVP-Kanzler Kurz schwört die „Lieben Österreicherinnen und Österreicher“, mittlerweile ergänzt durch „und alle, die hier leben“ auf Zusammenhalt und „Gemeinsam durch die Krise“ ein, der grüne Vizekanzler Kogler belebt die staatstragende Rhetorik mit anschaulichen Appellen und beweist vor allem in wirtschaftlichen Fragen sein starkes wissenschaftliches Fundament.

Wechselnde MinisterInnen aus den türkisen und den grünen Reihen ergänzen Fachliches. ÖVP-Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, zuständig auch für Digitalisierung, reimt: „Kaufen Sie regional, das geht auch digital!“ Grünen-Umweltministerin Eleonore Gewessler macht den Weg dafür frei, dass Städte und Gemeinden Straßen in der Krise zu Fußgängerbereichen machen dürfen, um das Abstandhalten zu ermöglichen.

Was in Österreich in der Corona-Krise gut funktioniert, ist, die massiv ins Leben der Menschen eingreifenden Maßnahmen zu erklären und verständlich zu machen, warum sie notwendig sind. Die noch junge Regierung, seit Jahresbeginn im Amt, beweist im Ausnahmezustand Handlungsfähigkeit und Sachlichkeit. Die „Affäre Ischgl“ um den Skiort als Virus-Drehscheibe im europäischen Fun-Skizirkus einmal beiseite geschoben (mögliches Wissen in Wien um die Vorgänge in Tirol bleibt aufklärungsbedürftig), hat das Land schnell reagiert und in einem Schulterschluss über Partei- und ideologische Grenzen hinweg die Maßnahmen eingeleitet, die sich vier Wochen später als richtig erweisen.

Kurz vor Ostern zeigen die Ansteckungskurven die ersehnte Abflachung, das Gesundheitssystem funktioniert, die Situation scheint beherrschbar. Dass im ersten Moment des vorsichtigen gemeinsamen Aufatmens den Menschen bereits die Karotte „baldige Erleichterungen“ vor die Nase gehalten wird, gleichzeitig aber neue Regelungen unvermittelt angekündigt werden, irritiert: Maskenpflicht ab sofort und Öffnung kleiner Läden nach Ostern, bald folgend Baumärkte, später dann größere Kaufhäuser, im Mai bereits vorsichtiges Hochfahren des Tourismus „unter Auflagen“, gleichzeitig aber die Aussage des Kanzlers, die Reisefreiheit, „wie wir sie kannten“, werde es erst nach Vorhandensein einer effizienten Impfung geben.

Das sind Signale, die einerseits Hoffnung geben und den Menschen nach vier Wochen in stark eingeschränkter Situation Erleichterung signalisieren sollen. Schließlich ging es nicht allein um Besuchs- und Bewegungseinschränkungen. Über eine halbe Million Menschen waren Ende März arbeitslos, das ist ein Anstieg um mehr als 65 Prozent. Sozialorganisationen verzeichnen einen Ansturm auf die Sozialberatungen, die Lebensmittelausgabe an Bedürftige wird in allen Städten und auch am Land ausgebaut, psychosoziale Beratungsstellen und Anlaufstellen für Gewaltopfer verzeichnen ansteigende Nachfrage. 

Andererseits zeigen die Verschärfungen an anderer Stelle wie Maskenpflicht oder die Debatte um eine Warn-App, dass von einem „Back to normal“ noch lange keine Rede sein kann. Wie sehr die in Aussicht gesetzten Lockerungen, die wohl ein Gefühl der Erleichterung geben sollen, vom konservativen türkisen Partner in der Regierung dominiert sein dürften, zeigt die Fokussierung auf Handel, Wirtschaft und zuletzt Tourismus.

Bildungsminister Fassmann dagegen lässt klare Richtlinien und eine zielgerichtete Strategie nicht erkennen. Alleine für die anstehenden Abschlüsse (Lehrabschlüsse und Matura/Abitur) sind nun die Rahmenbedingungen geklärt. Für Früh- und Elementarpädagogik, für  Bildung und Schulen gibt es darüber hinaus keinen erkennbaren Fahrplan. Wie Eltern, die zunehmend wieder arbeiten werden, die Kinderbetreuung bewerkstelligen, wie Schülerinnen die entfallenen Stunden und Lerninhalte nachholen sollen – das wird derzeit nach unten, ins Private und in die Entscheidungsautonomie der Schulen weitergereicht. Zur Kleinkinderbetreuung, wo Abstandhalten am allerwenigsten eingehalten werden kann, war noch kein Ton zu hören.

Demokratiepolitisch irritierend ist vor allem, wie gut das bekannte Framing der konservativen Mehrheit in der Regierung funktioniert, etwa wenn Innenminister Karl Nehammer bei allen Maßnahmen in permanenter Wiederholung den Aspekt „Sicherheit“ in den Vordergrund rückt. Da wird die DNA des Mehrheitspartners in der Koalition ganz deutlich. Auch wenn Europaministerin Karoline Edtstadler angesichts der antidemokratischen Entwicklung beim Nachbarn Ungarn den offiziellen Protest verweigert und nur leise ankündigt, man setze auf „persönliche Gespräche“.

In der Diskussion um die Warn-App preschte der konservative Nationalratspräsident mit einer Forderung nach Verpflichtung vor, wurde dann aber doch zurückgepfiffen, man will auf Freiwilligkeit setzen. Wenn Vizekanzler Kogler laut darüber nachdenkt, die immensen wirtschaftlichen Kosten des Ausnahmezustands unter anderem durch eine Erbschaftssteuer zu finanzieren, quittiert das die Kanzlerpartei umgehend als „Privatmeinung“.

Der anfangs beschworene Zusammenhalt bekommt angesichts der Ängste der Menschen Risse, auch die Opposition und manche Medien haben den allseitigen „Schulterschluss“ aufgekündigt. Angesichts des nahenden magischen Datums der „100-Tages-Marke“ der türkis-grünen Koalitionsregierung mahnen kräftige Stimmen ein, der Krise noch eine andere Seite, politisch kreative Seite abzugewinnen. Der liberale Standard spricht von der „Pflicht zum utopischen Denken“. Das Regierungsabkommen sei ohnehin Makulatur. Die Krisen-Gesetzgebung habe gezeigt, dass vieles möglich sei, was lange undenkbar galt.

Irmgard Rieger
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