Deutschland weiter ohne Regierung

Aus dem Giftschrank

d'Lëtzebuerger Land du 01.12.2017

Christian Schmidt. Bis zu Beginn dieser Woche hatte der christlich-soziale Politiker gute Chancen auf den Titel des unbekanntesten Kabinettsmitglieds. Der letzten Legislaturperiode. Ach was, ever. Es mag ein gutes Zeichen sein, dass Schmidt sein Landwirtschaftsministerium ruhig und ohne Skandale geführt haben mag, oder zu ruhig und inhaltslos. Am Montag dieser Woche dann sein Husarenstück: Er ermöglichte die weitere Verwendung des Pflanzengifts Glyphosat in der Europäischen Union. Dabei hatte sich seine sozialdemokratische Kabinettskollegin Barbara Hendricks aus dem Umweltressort gegen die weitere Zulassung gewandt – mit Hinweis auf mögliche Gesundheitsgefahren. Bei einem solchen Dissens hätte sich Schmidt bei der Abstimmung in Brüssel nach der derzeitigen Geschäftsordnung der im Amt verweilenden Bundesregierung jedoch enthalten müssen. Gebracht hat es ihm: erstens Zoff mit der Umweltministerin, zweitens eine Rüge der Bundeskanzlerin, drittens Unzufriedenheit bei den Glyphosat-Herstellern, denen die Zulassung nicht lang genug geht, und – schlimmer noch – Ungemach bereits vor den ersten möglichen Sondierungsgesprächen zwischen CDU, CSU und SPD. Das Verhalten des Bundes-Agrarministers von der CSU steht symptomatisch für den Unwillen – in allen drei betroffenen Parteien –, es erneut miteinander zu versuchen, geschweige denn es miteinander auszuhalten.

So wirkt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seinem Trommeln für die Große Koalition in diesen Tagen wie ein einsamer Rufer in der Ödnis. Die Politiker möchten den Präsidenten in seinem Amt nicht weiter beschädigen, und so gibt man sich im Schloss Bellevue die Klinke in die Hand, gaukelt guten Willen vor und hofft still und heimlich auf Neuwahlen. Die starken, wenn auch gleichzeitigen einzigen Argumente Steinmeiers für die Weiterführung der Großen Koalition sind das Grundgesetz und die derzeit unsichere Lage in Europa. Das politische System Deutschlands ist gespickt mit Lehren aus der Weimarer Republik. Ein Wählervotum in den Wind zu schlagen und ohne Not Neuwahlen auszurufen, ist schlichtweg nicht vorgesehen.

So müht man sich gen Große Koalition. Vordergründig aus Vernunftgründen. Hintergründig aus Machterhalt und weil die einzige Alternative am Ego eines Provinzpolitikers gescheitert ist. Viele Wähler sehen die Große Koalition als staatspolitischer Notnagel, der immer dann zur Stelle ist, wenn es anders nicht mehr geht. Nicht, um das Land zu gestalten und zu reformieren, sondern um das Land zu verwalten und sich gegenseitig auszuhalten. Die noch immer vorhandenen Unterschiede zwischen den beiden traditionellen Volksparteien, ihr hin und wieder ausgefochtener politischer Wettbewerb, wird vom nötigen Kabinettskonsens überlagert. Die daraus resultierende Wahrnehmung als Einerlei und Alternativlosigkeit hat bei der Wahl Ende September andere Parteien gestärkt und den Rechtspopulismus als neue Konkurrenz bundestagfähig gemacht. Es rächt sich nun bitterlich, dass die SPD vor vier Jahren ohne große Not in eine Große Koalition getaumelt ist. Es gab damals eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die nicht einmal sondiert wurde. Allzu schnell fand man sich in der Regierung von Angela Merkel wieder, die im Gegenzug den Koalitionspartner stets unsichtbar machte.

Den Sozialdemokraten fehlt es aber zurzeit an Projekten, um in eine Große Koalition einsteigen zu können. In der vergangenen Legislaturperiode war es immerhin der Mindestlohn, mit dem sie sich vor der eigenen Basis rechtfertigen konnte. Nun überwiegt die schiere Angst, vollkommen von den Christdemokraten untergebuttert zu werden. Die SPD muss sich ihrer eigenen Identität wieder bewusst werden, was in der Opposition leichter fällt, als in Regierungsverantwortung. Und auch die Christdemokraten sind inhaltlich ausgeblutet. Sie wäre dringend aus Impulse aus einer so genannten Jamaika-Koalition angewiesen, um wieder Ziele und Leitlinien für Deutschland und Europa entwickeln zu können. Lediglich die Christsozialen sind derzeit mit Personalfragen ausreichend beschäftigt. Doch gerade in diesem Lager zeigt die Glyphosat-Entscheidung von Schmidt, wie sehr Merkels Autorität seit der Bundestagswahl gelitten hat.

Aus Staatsräson kann im Januar eine Große Koalition zustande kommen – mit einem einigermaßen vernünftigen Koalitionsvertrag, der Entlastungen für kleine und mittlere Einkommen vorsieht, Investitionen in Bildung und Digitalisierung vorsieht und eine ordentliche Europapolitik proklamiert. Verhandlungssache sind dann mehr Kindergeld, mehr Polizisten, weniger Flüchtlinge auf der einen Seite und mehr Rente, mehr Mieterschutz, weniger Kapitalismus auf der anderen. Am wichtigsten ist jedoch, dass Deutschland schnell wieder handlungsfähig wird, denn die Herausforderungen auf europäischer Ebene sind nicht minder enorm, denn im Land selbst. Eine Große Koalition brächte schneller Handlungskompetenz als Neuwahlen.

Martin Theobald
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