Luxemburgensia

Die Guten und die Bösen

d'Lëtzebuerger Land du 27.07.2012

Auch über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende tun sich die Luxemburger schwer mit dem Eingeständnis, dass einige Luxemburger das Bewusstsein ihrer Opferrolle während des Krieges in der Nachkriegszeit als moralischen Freibrief benutzten, um nach Gutdünken zu richten und zu rächen. Aus literarischer Sicht erweist sich diese unerfreuliche Seite des Luxemburger Geschichtsverständnisses als moderne Variante des klassischen tragischen Konflikts: Die Opfer des Kriegsgeschehens, die unschuldige Bevölkerung, macht sich nach der Vertreibung der Nationalsozialisten schuldig, indem sie – oft ziemlich unterschiedslos – den erwiesenen und vermeintlichen Kollaborateuren des feindlichen Regimes nachstellt. Es kommt zu öffentlichen Bloßstellungen, Denunziationen, Raub, Gewalt und Totschlag. Dass es für diese Ausfälle nicht immer legale eine Basis gibt, wird mit dem Hinweis auf die jahrelangen Kriegsleiden abgetan.
Es ist ein interessantes Thema, das André Link als Ausgangspunkt für sein neues Buch entdeckt hat. Dass es Anklang bei den Lesern findet, zeigt ein Blick auf die nationale Bestenliste, wo Die große Hatz seit zwei Monaten nur Guy Rewenigs Ulkwörterbuch den Vortritt lassen muss. Erklärtes Ziel des Autors ist, „mit einem Abstand von über 65 Jahren unvoreingenommen darzulegen, warum was damals geschah“ (Vorwort, S.5), und dies „in literarischer Form“. Die Rückbindung an die Faktenlage ist ihm dabei wichtig: „Im Prinzip [...] sind die geschilderten Episoden historisch belegt.“ Was sich Link hier vornimmt, ist ein nicht ganz einfacher Spagat zwischen Wahrheit und Dichtung: Für historisch belegte Abläufe und Ereignisse muss er die Motive und Emotionen beibringen, die Innenansicht zur Außenansicht nachreichen.
Wie komplex sich eine solche Innenansicht ausnehmen muss, ergibt sich einerseits aus der dramatischen Konstellation des unschuldigen Schuldigwerdens, aus der Frage, welches Ventil der Einzelne für seine Trauer über Verlust und Zerstörung und für seine Wut auf die Unterdrücker findet. Andererseits lässt sich diese Konstellation auch umkehren in Situationen, in denen die schuldigen Kollaborateure und Opportunisten auf ungerechte Weise für ihre Vergehen belangt werden. Das Ineinandergreifen von Schuld und Unschuld macht die Selbstjustiz der Nachkriegsjahre für eine literarische Aufarbeitung attraktiv.
Leider beschneidet Link das Potenzial seines Sujets, indem er sich gerade nicht für eine sorgfältige psychologische Auseinandersetzung entscheidet, sondern seinen „Roman“ in ein Panorama vieler Einzelsituationen auffächert, die jeweils nur einen kurzen Einblick in die verschiedenen Facetten der moralischen Verstrickungen der Nachkriegszeit bieten. Das Ergebnis gleicht eher einer Materialsammlung als einem zusammenhängenden literarischen Text. So werden etwa zwei Kinder auf dem Heimweg Zeugen, wie die Villa Peters geplündert wird; eine junge Frau wird auf einem Spaziergang durch die Stadt als Geliebte eines deutschen Soldaten erkannt und öffentlich gedemütigt, und ein Ehepaar, das sich während des Krieges an hilflosen Juden bereichert hat, wird von der Miliz abgeholt. Nur eine Geschichte verfolgt der Autor über mehrere Episoden; es handelt sich dabei um eine reichlich überzuckerte Liebesgeschichte zwischen Mady, die ihren Vater im Krieg verloren hat, und Leo, der unter der Schuld leidet, als Aufseher in einem Lager nicht immer die moralisch richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Doch auch in dieser etwas tiefer ausgearbeiteten Geschichte gelingt es dem Autor kaum, dem Leser ein Gefühl für die Komplexität der Gewissenskonflikte, der schwierigen Vermittlung von Eigeninteresse und Verantwortung für andere zu vermitteln, die hier im Spiel gewesen sein müssen. Zu oft sind die Hauptfiguren der Episoden widerliche Profiteure, die aus purer Habgier und Herzenskälte zu Kollaborateuren wurden (vgl. Monsieur und Madame Mägele), oder sie sind so eindeutig unschuldige Zaungäste der Historie, zum Beispiel wehrlose Kinder deutscher Eltern oder naive, verliebte Mädchen, dass ihre Verfolgung durch selbsternannte Rächer dem Leser schlicht abgeschmackt erscheint. Unbestritten gehören solche Fälle zur historischen Wirklichkeit. Literarisch interessant wären aber eher Fälle gewesen, die sich auf dem schmalen Grat zwischen Schuld und Unschuld bewegen, bei denen sich also keine Wertung darüber aufdrängt, ob sie eher als Opfer oder als Täter einzustufen sind.
Dem Vorsatz einer distanzierten, ausgewogenen Darstellung der Nachkriegsjahre kommt nicht nur eine zum Teil unglückliche Auswahl der Figuren in die Quere, sondern vor allem die veraltete, überladene Sprache, die den moralisierenden Ton der Darstellung mehr und mehr in eine plakative Anklage verwandelt. Mit seinem hoffnungslos pathetischen Stil hebelt Link jeglichen Ansatz einer sachlichen Darstellung aus. Das beginnt bei Landschaftsbeschreibungen von der Art: „Unten im Tal brodelte und qualmte das gemarterte Dorf. Düstere Gewitterwolken hingen über den von einem dichten grünen Waldkamm gekrönten Koppen.“ (S. 11f) Es führt über klischeelastige Beschreibungen von Gefühlsregungen, wie „Françoise erbebte in innerem Jubilieren“ (S. 30), „So stand er in der Wirtsstube, [...] mit flammenden Augen und geballten Fäusten“ (S. 112), „Gleichzeitig ließ sie die Wurfgeschosse ihrer zornentbrannten Augen auf das Mädchen niedergehen“ (S. 155) und so weiter, bis hin zu einer ganz hilflosen Beschreibung von Sex im Grünen: „Auch das plötzlich von ungestümen Wellen gepeitschte Gras schien ihre Erregung zu teilen. Wie in Ekstase jagten die Wolken über den Himmel, der Madys und Leos Freudenfest mit einem Posaunenstoß besiegelte.“
Diese pathetische Sprache imitiert letztlich genau das Element, das die moralische Zwielichtigkeit der Nachkriegsjahre überhaupt erst hervorgebracht hat: das Gefühl nämlich, das oft genug über den Verstand Recht behielt.

André Link: Die große Hatz. Treibjagd nach Kriegsende. Roman. 188 S. Éditions Saint-Paul, Luxemburg 2012. ISBN 978-2-87963-844-7
Elise Schmit
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